Kolumne Vollbart: Voll #yolo

Dieses Nettigkeitsding ist nicht auszuhalten. Es fühlt sich falsch an, es hilft auch keinem – vor allem nicht mir.

Ist grad das heiße Ding in Neukölln: vier Räder unter den Füßen Bild: dpa

Ich werde alt. Und spießig. Es ist passiert. Es schlich sich so ein. Nachts, an der Haltestelle Boddinstraße, in Neukölln. Skateboarden ist dort der neue heiße Scheiß – zumindest unter 16-jährigen Jungs. Skaten in U-Bahnhöfen. Das ist so voll gettomäßig, voll gefährlich, voll #yolo. Schließlich hängen die ja auch in so einer beängstigenden Gegend ab. Als einer ganz dicht und schnell an mir vorbeifährt, schubse ich ihn vom Skateboard in die gerade haltende Bahn. Er schreit mir „Wichser!“ hinterher, zeigt den Mittelfinger. Ich grinse. Neukölln eben.

Neukölln ist auch der Kiez, wo unter Schulfenstern „Penis-Penis-Vagina“ steht. So getto ist es hier. Es steht nicht „Schwanz“ oder „Fotze“ dort. Nein, „Penis“ und „Vagina“. Selbst die Kinder fühlen sich damit extrem getto, gar verrucht. Auch ich erzähle meinen Freunden gern von meiner Zeit im Kölner „Getto“, als wir Kanaken gemeinsam auf dem Basketballplatz an der Eiche abhingen. Nicht dass ich jemals Basketball gespielt hätte – aber allein die Illusion, dass ich es hätte tun können, gab mir ein verwegenes Gefühl. Und heute? Heute bleibt nur noch die Erinnerung. Die Spießbürgerlichkeit ist eben auch in mich hineingekrochen.

Am obszönen Ort

Deswegen hänge ich jetzt auch in Bibliotheken ab. Voll #yolo. Im Jacob-und-Wilhelm-Grimm-Zentrum zum Beispiel, in diesem obszönen Gebäude, das eher an das Panopticon nach Bentham erinnert als an einen Ort zum Lernen. Von jedem kleinen Schreibtisch aus kann man anderen Menschen beim Studieren zusehen. Und als ich da in der oberen Etage so sitze, lese und die Zeit vergeht, steht nach 20 Minuten der erste Wachmann neben mir.

„Kann ich bitte Ihren Ausweis sehen?“, sagt er. Ich drehe mich um, nehme die Kopfhörer ab, im Hintergrund läuft daraus noch 2Pac, und schaue ihn an. Er wiederholt seine Aufforderung. Ich drehe mich um. Keiner der anderen Menschen im Raum wurde offenbar gebeten, den Ausweis vorzuzeigen. Ich frage ihn also: „Wieso kontrollieren Sie eigentlich nur mich?“ – „Ausweis bitte“, ist seine Antwort. Ich versuche es noch mal: „Wie kommen Sie denn darauf, nur mich zu fragen? – „Vorschrift. Vorschrift ist eben Vorschrift.“

Ganz neu: nett sein

Ich zeige ihm meinen Ausweis, packe meine Sachen und wünsche ihm einen schönen Tag. Das ist mein neuester Trick, nett sein. Hilft nur nicht. Er verfolgt mich, will erfahren, was mein nächster Schritt ist. Und in diesem Augenblick fühle ich mich wieder wie mit 14 Jahren, wieder voll getto. Ich beschwere mich aber kein einziges Mal.

Geht es mir besser damit? Nein. Dieses Nettigkeitsding ist nicht auszuhalten. Es fühlt sich falsch an, es hilft auch keinem – vor allem nicht mir.

Den Skateboardjungen von der Haltestelle Boddinstraße treffe ich ein paar Tage später am Alex wieder. Wir schauen uns aus der Ferne intensiv an, wie in einem schlechten Western. Er fährt los, ich gehe in seine Richtung, wir schauen grimmig. Als er kurz vor mir ist, steigt er ab.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Jahrgang 1982, ist seit 2011 bei der taz. Seit November 2012 wirkt er als Redakteur bei tazzwei/medien. Zuvor hat er ein Volontariat bei der taz absolviert.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.