Die Wahrheit: Scheite als Chance

Nicht nur zur Walpurgisnacht: Auf dem Land flammt der Hexenwahn wieder auf.

Neuheidnische Hexen bevorzugen stets gedämpftes Kerzenlicht. Bild: reuters

Es ist eine Szene wie aus einem Horrorfilm. Ein Mann im schwarzen Samtumhang, umringt von Hexenmeistern, Unholden und Wickern, die um ihn herumtanzen, während ohrenbetäubender Pagan Metal der geistigen Gesundheit den Rest gibt. Doch Werner Jentsch, Geschäftsführer des „Wahmbecker Hofs“ in Lemgo, könnte in diesem Inferno kaum glücklicher sein.

Noch zu gut erinnert sich der studierte Betriebswirt an den 30. April vor vier Jahren, als die traditionsreiche Kneipe zum Tanz in den Mai beinahe menschenleer blieb. „Die jungen Leute fuhren zum Feiern alle in die großen Städte“, erzählt der Gastronom. „Hier wollte einfach keine Partystimmung mehr aufkommen, es war wie verhext …“

Doch genau dieses Resümee erwies sich als rettender Gedanke, denn Jentsch besann sich auf die Hexentradition der Walpurgisnacht. Im folgenden Jahr baute er mithilfe eines befreundeten Schaustellers sein Lokal zur Geisterbahn um. Den Gästen wurde der Garderobe-Hinweis „Mantel & Besen“ mit auf den Weg gegeben, und auf der Speisekarte standen eigene Kreationen wie Alraunenmännlein im Johanniskrautbett und Waldmeister im Weizenbrötchen, der sogenannte Merseburger. Außerdem Kartoffelbrei für die kleinen Gäste – denn Hexerei verpflichtet.

„Walpurgisnacht ist das neue Halloween!“, frohlockt der umtriebige Gastwirt, der sich seitdem vor Feierwütigen kaum retten kann. „Im nächsten Jahr werden wir einen separaten Raum als Dunkelrestaurant bewirtschaften“, erklärt er seinen neuesten Einfall. „Dort servieren wir in völliger Dunkelheit kalte Spaghetti, die auf der Karte als Grabwürmer ausgewiesen sind. Oder umgekehrt. Seit diesen Dschungelshows kann man den Leuten alles Erdenkliche vorsetzen.“

Auch in Großstädten setzt man inzwischen mit gruseligen Mottopartys auf den neuen Trend. Doch das Partyvolk zieht es aufs Land, besonders ins Lipper Land. „Wir haben hier ein ganz klares Alleinstellungsmerkmal“, erklärt Jentsch mit Blick auf die Hexenverfolgung im 17. Jahrhundert. Das Herzogtum Westfalen galt damals als Hochburg des Hexenwahns und in Lemgo vermag noch heute das „Hexenbürgermeisterhaus“ davon schaurige Geschichten zu erzählen.

Der neuen Tradition ist das nur förderlich, denn der Hexenwahn begeistert Jung und Alt – fast wie in früheren Zeiten. Während die Erwachsenen im „Wahmbecker Hof“ feiern, ziehen die Kinder als Inquisitoren verkleidet von Haus zu Haus und unterziehen die Bewohner einer peinlichen Befragung. Wer den kleinen Hexenjägern keine Süßigkeiten gibt, bekommt den „Schwedentrunk“, ein Jauchegemisch, verabreicht. Zwar nicht mehr oral wie anno dazumal, doch immerhin durch den Briefkastenschlitz. Was bleibt, ist pestilenzartiger Gestank und schadenfrohes Kinderlachen.

Doch nicht alle Lemgoer stimmt das neue Brauchtum fröhlich. Barbara Stahl, die im Ortsteil Brake einen kleinen Kräuterladen betreibt, vermisst bei den Feierlichkeiten den nötigen Ernst und die religiöse Komponente. Seit eine paar Jahren sieht die resolute Mittvierzigerin und Kassenwartin der Weisen Frauen von den Externsteinen e. V. die Welt mit anderen Augen. Im Herbst 2007 war sie beim Befüllen eines Regals gestürzt. Dabei riss sie die Stellage mit und wurde anschließend unter einer Zentnerlast von Ware begraben. „Zuerst dachte ich, ich bin tot“, sagt Stahl. Doch wie durch ein Wunder überlebte sie den Unfall ohne eine einzige Schramme. Das mysteriöse Missgeschick wurde für sie zur Initiation. „In dem Moment habe ich begriffen: Alles, was von dir ausgeht, fällt dreifach auf dich zurück.“

Seither steht die Erkenntnis des eigenen Lebens und die innere Transformation für Barbara Stahl im Zentrum ihres Denkens und Handelns – gerade in der Walpurgisnacht. Höhepunkt der kathartischen Rituale in dieser Nacht ist ein Reenactment, bei dem sich Stahl ihre Macht, aber auch ihre Verantwortung als Wickersche ins Bewusstsein ruft. Mit dem ausgelassenen Treiben rund um den „Wahmbecker Hof“ hat das neuheidnische Passionsspiel allerdings nichts gemein. Am Vorabend des Mai lässt sich Barbara Stahl vollständig entkleiden, rasieren und anschließend auf einem langen Tisch liegend an Armen und Beinen fesseln. Ein befreundeter Krankenpfleger bedient das Hebelrad, mit dessen Hilfe sich die Fesseln strammer ziehen und die Gelenke dehnen lassen, während ihre Schwägerin eiserne Zangen zum Glühen bringt. „Das sind alles Leihgaben eines örtlichen Museums“, erklärt die gelernte Hebamme stolz.

„Ich will den Leidensweg der Hexen nachempfinden“, erklärt die tiefgläubige Stahl, die in den ersten Jahren noch auf selbst geschnitzte Daumenschrauben und improvisierte Mundsperren aus dem Baumarkt angewiesen war. „Dabei tanke ich ganz viel spirituelle Kraft, die natürlich auch meiner magischen Arbeit zugutekommt.“

Ihr Traum ist es, in der Walpurgisnacht auf dem Marktplatz von Lemgo an einen Pfahl inmitten eines Reisighaufens gefesselt zu werden. Aber das ist ihren Vertrauten bislang noch zu heiß. Außerdem hat der umtriebige Erlebnisgastronom Jentsch den Platz bereits im nächsten Jahr für eine „Bitches & Witches“-Party vorgebucht.

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