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Essay zum UN-WeltkulturerbeMord mit besten Absichten

Kolumne
von Marco D'Eramo

Durch das Label „Weltkulturerbe“ wird das Vermächtnis der Menschheit nicht gerettet, sondern zerstört: Aus Städten macht es lebensfeindliche Museen.

Das wirkliche Leben findet draußen vor der Altstadt statt: San Gimignano in der Toscana. Bild: imago/Invision

E ntsetzlich, mitansehen zu müssen, wie immer mehr Städte der Agonie verfallen: großartige, opulente, pulsierende Städte, die Jahrhunderte, zum Teil sogar Jahrtausende den Wechselfällen der Geschichte widerstanden, die Kriege, Seuchen und Erdbeben überlebt haben. Und nun verwelken sie, entvölkern sich und verkommen zu Kulissen, in denen eine blutleere Pantomime gegeben wird.

Wo einst das Leben brodelte, wo ein harter, zielstrebiger Menschenschlag sich Platz verschaffte, um voranzukommen und sich die Welt anzueignen, wo getreten und mit Ellenbogen gestoßen wurde, gedeihen heute nur noch Würstchenbuden und immer gleiche Auslagen für sogenannte regionale Spezialitäten, für jede Art Kunsthandwerk von Musselin und Batik bis zu den unvermeidlichen Armreifen. Vom lauten und wüsten Leben ist nur die Postkartenansicht geblieben: alles genau wie im Katalog beschrieben.

Das Todesurteil für die Städte kommt, nach einem bürokratischen Hürdenlauf, aus Paris: Aus einem Gebäude an der Place de Fontenoy im 7. Arrondissement. Und das Urteil ist nicht mehr anzufechten, es ist ein label, ein brand, das den Städten buchstäblich unter die Haut gegangen ist.

Bild: privat
Marco d'Eramo

hat Physik studiert. Später war er Schüler von Pierre Bourdieu in Paris. Er berichtet aus den USA für il manifesto. Auf Deutsch liegt von ihm das Buch „Das Schwein und der Wolkenkratzer. Chicago: eine Geschichte unserer Zukunft“ vor.

Ich spreche vom Unesco-Titel „Welterbe der Menschheit“ (World Heritage). Dieses Etikett ist bei Berührung tödlich: Wo die Unesco hinlangt, wird die Stadt gemeuchelt und anschließend ausgestopft.

Athen 450 v. Chr.

Dieser Mord geschieht in bester Absicht und mit reinem Gewissen, eben um ein Erbe der Menschheit haltbar zu machen. Aber es steckt im Wort: Haltbar machen heißt einbalsamieren, einfrieren, heißt den Städten den Verschleiß und die Wunden, die die Zeit schlägt, ersparen; heißt die Zeit tatsächlich anhalten wie auf einer Fotoplatte, heißt Wandel und Entwicklung aussperren.

Gewiss steht die Unesco vor einem Dilemma. Denn es gibt Güter, die geschützt und bewahrt werden müssen. Wahr ist aber auch, dass es keine Propyläen gäbe, keinen Parthenon, kein Erechtheion, wenn die Athener sich 450 v. Chr. entschieden hätten, die Akropolis so zu lassen, wie sie eben war. Die Unesco wäre verrückt geworden angesichts des bewundernswerten Potpourris, das im 16. und 17. Jahrhundert in Rom aus Antike, Barock und Manierismus entstand. Und seien wir froh, dass das Pariser Viertel Marais nicht zum Weltkulturerbe erklärt wurde, sonst könnten wir vom Centre Pompidou nur träumen.

Zwischen bauen und bewahren muss ein Gleichgewicht gefunden werden. Wir möchten in Metropolen mit Kunst und Baudenkmälern, nicht in Mausoleen mit angeschlossen Schlafstädten leben. Es ist unmenschlich, jemanden dazu zu verurteilen, sein ganzes Leben im Gästetrakt eines endlosen Museums verbringen zu müssen.

In San Gimignano

Nach dreißig Jahren war ich wieder im toskanischen San Gimignano: Innerhalb der Stadtmauern gibt es keinen Metzger mehr, keinen Gemüsehändler, keinen echten Bäcker; und wozu auch? – wenn die Bars und Restaurants und die Souvenirgeschäfte schließen, dann bleibt keiner aus San Gimignano zum Schlafen im Zentrum. Alle wohnen sie in den modernen Häusern außerhalb der Mauern, in der Nähe der Einkaufszentren. Die Altstadt ist zum Set für einen Ritterfilm geworden, sie trägt sozusagen Kostüm, sie ist einzig und allein dazu da, die unvermeidlichen „traditionellen“ Produkte zu vermarkten. Und je kleiner die Stadt ist, desto schneller stirbt sie. Das gilt nicht nur für Italien.

In Laos hat das Weltkulturerbe Luang Prabang das gleiche Schicksal ereilt. Das Zentrum ist eine einzige große residence für Touristen, aus Wohnhäusern sind Restaurants und Hotels geworden, umgeben vom üblichen Nippesmarkt mit Taschen, Gürteln, Schmuck. Wenn man sehen will, wo die Laoten wohnen, muss man ein paar Kilometer mit dem Rad auf der Photisalath Road fahren, über die Phu Vao Road hinaus – erst dann findet man wieder eine lebendige Stadt.

Wen es nach Porto in Portugal zieht, der bemerkt sofort die unsichtbare Grenze, die sich um das Gebiet des World Heritage zieht: Die Menschen werden andere – hier eine bunte, heterogene Menge, dann wie durch Zauberhand nur noch Ladeninhaber, Gastwirte, Kellner. Und sie alle stürzen sich auf die konforme Masse der Trekkingstiefelträger mit ihren grauenhaften kurzen Hosen und ihren bloßgelegten behaarten Beinen – wer weiß, warum Menschen im Tourismuseinsatz meinen, sich kleiden zu dürfen, wie es bei sich zu Hause nur Deutsche wagen würden.

Gesicht der globalen Tourismusmaschine

Der Brand „Weltkulturerbe“ dient der Beherbergungsindustrie als ideologisches Diplom, es ist das intellektuelle und menschliche Gesicht der globalen Tourismusmaschine. Und es lenkt nur vom Problem ab, wenn man „Weltkulturerbe“ mit Institutionen wie Nationalparks gleichsetzt: Denn Naturschutzgebiete sollen der dort ansässigen Fauna und Flora das Gedeihen ermöglichen, während die menschliche Fauna durch den Welterbestatus praktisch zum Verlassen des ausgewiesenen Schutzgebiets gezwungen wird, weil alles, was zu einem normalen Leben gehört, unmöglich gemacht wird.

Zwei Umstände kommen erschwerend hinzu. Zum einen ein Phänomen, das man „zeitlichen Fundamentalismus“ nennen könnte, demzufolge es verdienstvoller scheint, das zu bewahren, was einer länger zurückliegenden Epoche entsprungen ist: Weil sie tausend Jahre älter ist, rechtfertigt die Ausgrabung einer römischen Mauer den zerstörerischen Eingriff in das Ensemble eines großartigen mittelalterlichen Kreuzgangs – so geschehen in der Kathedrale von Lissabon.

Das zweite Phänomen ist philosophischer Natur. Da die Unesco die Stätten des Weltkulturerbes stets weiter vervielfältigt, und da die Menschheit gleichzeitig weiterhin Kunstwerke produziert (so hoffen wir) –, wenn wir also nach zweitausend Jahren Kulturgeschichte schon umstellt sind von Erbstücken: Was wird in tausend, in zweitausend Jahren sein? Leben wir dann auf dem Mond und kaufen Eintrittskarten für einen Besuch auf der Erde?

Einbalsamiertes Italien

Und wie ist es nun dazu gekommen? Nach jahrelangen Diskussionen verabschiedete die Generalkonferenz der Unesco 1972 das „Übereinkommen zum Schutz des Kultur- und Naturerbes der Welt“, dem bis heute 190 Länder beigetreten sind. 1976 wurde das „Welterbekomitee“ geschaffen, das 1978 das erste Erbe definierte. Heute gibt es 1007 Welterbestätten in 161 Ländern: 779 kulturell, 197 natürlich und 31 gemischt.

Zu den 779 Ausgezeichneten gehören 254 Städte – ob nun in ihrer Gesamtheit, ob einzelne Viertel oder nur die Altstadt. Die absolute Mehrheit dieser Kunststädte findet sich in Europa (138). Und wiederum fast die Hälfte davon ist auf vier Länder verteilt: Italien (29, inklusive Vatikanstadt und San Marino), Spanien (17), Frankreich und Deutschland (je 11).

Wenn man von seiner relativ geringen Fläche ausgeht, dann ist Italien das Land mit der höchsten Dichte an Welterbestätten. Und man möchte doch meinen, inzwischen sei, was auszumachen war, auch ausgezeichnet. Aber nein: In den 1970ern gab es gerade mal eine Stätte, in den 80ern gab es fünf weitere, in den 90ern dann die große Explosion mit 25 neuen Heritages; und seit Beginn des neuen Jahrtausends kamen erneut 20 hinzu.

Und immer noch drängeln die Städte, die Dörfer, die Regionen, dass sie ja als Erste einbalsamiert werden. Wie die Länder, die sich um Olympische Spiele bewerben, ohne sich klarzumachen, dass sie damit ihren Untergang heraufbeschwören wie Griechenland mit Athen.

Und wir stehen fassungslos vor der Perspektive, dass unser Land ein einziges großes Museum werden wird, in dem wir uns nur mit Filzpantoffeln fortbewegen dürfen, verzweifelt nach dem Notausgang suchend.

Nicht mehr lange, dann wird man den Film „Flucht aus dem Museum“ drehen, damit wir wenigstens auf der Leinwand wieder durchatmen können; damit wir einmal durchgeschüttelt werden vom wahren Leben und Städte sehen, die sich wandeln dürfen, bevor sie und wir endgültig eingemottet werden.

Aus dem Italienischen von Ambros Waibel

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