Kolumne Später: Der Nichtblick des Mannes

Frauen über 50 werden unsichtbar, heißt es oft. Komisch. Warum starre ich die alte Dame in der U-Bahn dann so intensiv an?

Bekommt immer noch Blicke: die Triathletin Madonna Buder Bild: dpa

Bevor die Frau mit der interessanten Grauhaarfrisur die U-Bahn betrat, war ich vertieft in einen Zeitungsartikel. Eine Beschwerde war es, mal wieder. Frauen über 50 werden diskriminiert, beklagte sich eine Autorin. Wir werden diskriminiert, aber nicht etwa, weil wir zu wenig Geld verdienen oder einen Offroader nicht alleine aus dem Schlamm schieben können. Nein, es geht um die Blicke. Wir kriegen zu wenig Blicke. Viel zu wenig. Von den Männern. Wir leiden unter Blickmangel. Und die Männer sind schuld, mal wieder.

Es gibt ja viele Arten von Mangel, erst recht im Alter. Bei mir zum Beispiel wurde neulich ein Vitamin-D-Mangel festgestellt. Freundin Lise leidet an einem Mangel an Omega-3-Fettsäuren und müsse mehr Fisch und Leinöl essen, erzählte sie mir. Meiner Freundin Theresa eröffnete der Arzt, sie litte unter Bewegungsmangel. Einen Mangel an Luft und Sonne hat Suse, klagte sie neulich. Bei so viel Mangel kommt der Blickmangel gewissermaßen nur noch dazu.

Die Diagnose ist allerdings völlig richtig. In jungen Jahren kriegt man ein bisschen zu viel männliche Blicke, besonders damals in den typischen Westberliner Kneipen nachts um halb eins. Das war wie ein Liter Rotwein auf einmal. Verträgt man schwer. Steigt einem auch ein bisschen zu Kopf. „Prinzessinnennummer“, hatte mein Bekannter S. mir damals entgegengeschleudert, „du wirst sehen, das wird nicht ewig so weitergehen!“ S. war übrigens ziemlich in Ordnung, wir sind noch heute befreundet. Und er hatte recht: Später kommt der Blickmangel. Man versucht abzuhelfen. Angeblich kaufen sich viele Frauen über 50 auch deswegen einen Hund, damit sie ein lebendes Wesen haben, das sie ständig anschaut, beobachtet, mit diesem treuen Blick, bis es Fressi gibt. Wer einen Hund hat, leidet nicht unter Blickmangel, so viel ist klar. Ich mag Hunde, aber ich will keinen, weil man die ständig ausführen muss.

Die Frage also lautet: Wie schlimm ist der spezielle durch Männer verursachte Blickmangel wirklich? „Typisch, dass du dich wieder mit den Macken der Männer beschäftigst“, hatte Freundin Britt mich neulich ermahnt, als wir über das Geschlechtliche sprachen, „aber was können wir für die Wahrnehmung des weißen, heterosexuellen, akademisch gebildeten Mannes zwischen 45 und 60 Jahren gegenüber der gleichaltrigen Frau?“ Nichts, da hatte sie recht. Man muss sich nicht wegen irgendwas zuviel Gedanken machen, woran man keine Verantwortung trägt. Am Nichtblick des Mannes bin ich nicht schuld, das ist ganz klar. Und irgendwie auch entlastend.

Ich lasse die Zeitung mit dem Artikel über die Diskriminierung der Frau ab 50 sinken. Die alte Dame mit der interessanten Grauhaarfrisur hat mir gegenüber in der U-Bahn Platz genommen. Die Haare hat sie in gekonnten Wasserwellen um ihr freundliches Gesicht gelegt, so was sieht man heute selten. Ihr Mantel hat einen Pelzkragen und eine Pelerine, so was gibt es nicht bei Peek & Cloppenburg. Sie wirkt wie aus einem Roman, der im 19. Jahrhundert spielt. Ich merke, wie ich sie anstarre. Ist mir unangenehm. Zu viel Blicke, das kann ja auch unangenehm sein. Ich sollte die Zeitung wieder zur Hand nehmen. Ich kann den Artikel ja noch mal lesen.

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Redakteurin für Sozialpolitik und Gesellschaft im Inlandsressort der taz. Schwerpunkte: Arbeit, soziale Sicherung, Psychologie, Alter. Bücher: "Schattwald", Roman (Piper, August 2016). "Können Falten Freunde sein?" (Goldmann 2015, Taschenbuch).

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