Krimi über eine Obdachlose: Verpeilt, versoffen und verraten
Liza Cody findet ihre Heldinnen ganz am Rand der Gesellschaft. In ihrem neuen Drama behält einzig ein Rennhund einen klaren Kopf.
Die Britin Liza Cody ist eine erfahrene Spezialistin für unzuverlässige Ich-Erzählerinnen. Schon bei ihren Romanen um die einfach gestrickte Catcherin Eva Wylie sorgte dieses Grundprinzip für eine wundervolle erzählerische Schieflage zwischen Wirklichkeit und Einbildung. Diese besaß, in Verbindung mit den rotzigen Dialogen und vor dem Hintergrund des literarisch wenig erschlossenen Milieus des Frauencatchens, einen so hohen Unterhaltungswert, dass die kriminalorientierte Grundhandlung der Romane darüber stark in den Hintergrund trat.
Mit ihrem neuen Roman, „Lady Bag“, knüpft Cody an das erprobte Eva-Wylie-Prinzip an, dreht die Schraube des literarischen Experiments aber noch ein Stück weiter. Dieses Mal ist ihre Ich-Erzählerin eine „Bag Lady“, eine Obdachlose, die auf Londons Straßen lebt und fast ununterbrochen entweder betrunken oder auf Tabletten, meistens aber beides ist.
Ihre Wahrnehmung der Wirklichkeit ist dadurch erheblich eingeschränkt. So merkt sie nicht einmal, dass eine blutüberströmte Frauenleiche in dem Haus liegt, in dem sie schwer verletzt Zuflucht sucht, als sie von einem Obdachlosenkumpan fast totgeschlagen worden ist, nachdem der mit einem anderen das Haus ausgeräumt hat.
Ins gediegene South Kensington hatte es die Obdachlosen nur deshalb verschlagen, weil die Erzählerin kurz zuvor fast mit ihrem Exfreund zusammengestoßen und ihm dann gefolgt war. Für ihn, so berichtet sie, war sie im Gefängnis, weil er Geld unterschlagen und sie, die damalige Bankerin, dazu gebracht hatte, die Schuld auf sich zu nehmen. Jetzt lebt er, nachdem ihre Mutter aus Gram gestorben ist, in ihrem Haus und sie auf der Straße.
Liza Cody: „Lady Bag“. Aus dem Englischen: Laudan & Szelinski. Ariadne Krimi im Argument Verlag, Hamburg 2014, 320 Seiten, 17 Euro.
Wie durch Nebel
Diese Vorgeschichte kommt ein wenig bruchstückhaft daher und bleibt eher vage, was aber nur natürlich ist angesichts des Zustands der Erzählerin und der Tatsache, dass sich in der aktuell erzählten Zeit die Ereignisse überschlagen.
Wie sich die übel Zugerichtete selbst aus dem Krankenhaus entlässt, auf der Straße einen jungen Transsexuellen aufliest, der sich gerade mit ihrer geliebten Hündin Elektra davonmachen will, mit allen beiden dann unter der Fuchtel eines gewalttätigen Wachschutzmanns in einem heruntergekommenen Wohnblock Zuflucht findet, bis eine Mitbewohnerin das Haus fast in Rauch aufgehen lässt: das ist wieder ein neues Großdrama, das, durch den halb bewusstlosen Zustand der Hauptfigur gefiltert, wie in einer Art Nebel über die Leser kommt.
Vor den Flammen gerettet werden die unzurechnungsfähigen Bewohner ohnehin nur dank der Wachsamkeit der treuen Hündin Elektra. Sie ist die einzige der Hauptdarstellerinnen in diesem Roman, die einen richtigen Namen trägt; und die einzige, die stets einen klaren Kopf bewahrt.
Die Liebe zu diesem Tier, einem rassereinen ehemaligen Rennhund, der von der Ich-Erzählerin vor dem Tierheim bewahrt wurde, ist wahrscheinlich das Einzige, was die erzählende Bag Lady am Leben hält – außer ihrem Wunsch nach Rache an dem Ex, der ihr so übel mitgespielt hat.
Die Antwort bleibt aus
Nun ist die Grundkonstruktion mit der zugedröhnten und schwer verletzten, also wirklich extremst unzurechnungsfähigen Erzählerfigur an sich schon sehr komplex – vor allem weil Cody das unwahrscheinliche Kunststück gelingt, ein hohes Maß an Empathie für ihre aus der Gesellschaft verstoßene Heldin zu wecken und gleichzeitig das Komische an deren Verpeiltheit voll auszukosten, ohne die Figur lächerlich zu machen.
Noch raffinierter wird diese Konstruktion dadurch, dass, nach bewährter Methode sozusagen hinter den Kulissen, die ganze Zeit ein kriminalistisches Rätsel mitläuft, das es ja letztlich auch noch zu lösen gilt: Wer ermordete die Bewohnerin des Hauses mit der gelben Tür?
War es tatsächlich der untreue Ex, der es somit schon wieder geschafft hätte, einer Geliebten ein Verbrechen unterzuschieben, das er selbst begangen hat? Ist unsere namenlose Bag Lady in Wirklichkeit gar nicht so plemplem, sondern in Wahrheit die Einzige, die die Machenschaften dieses kaltblütigen Schufts durchschaut?
Drängende Fragen, die nach beendeter Lektüre immer noch auf Antwort harren. Auch das ist, na klar, sehr raffiniert.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Interner Zwist bei Springer
Musk spaltet die „Welt“
Gastbeitrag in der „Welt am Sonntag“
Bequem gemacht im Pseudoliberalismus
Getöteter Schwarzer in den USA
New Yorker Wärter schlagen Gefangenen tot
BSW-Anfrage zu Renten
16 Millionen Arbeitnehmern droht Rente unter 1.200 Euro
Psychiater über Kinder und Mediennutzung
„Die Dinos bleiben schon lange im Schrank“