Altern und Würde: Bitte, Papa

Irgendwann muss man für seine Eltern sorgen. Was aber, wenn sie das nicht wollen?

Zu nah dran: Marlene wollte das Leben ihres Vaters in Ordnung bringen. Lange hielt sie es nicht aus Bild: Jens Schwarz

Am Weihnachtsabend vor einem Jahr war klar, dass es so nicht weitergehen konnte. Mein Vater hievte sich auf den Beifahrersitz meines Wagens. Der Geruch, der von ihm ausging, ließ mich das Fenster herunterkurbeln. „Bist du das?“, fragte ich ihn. Mein Vater schaute ertappt. „Der Boiler ist kaputt“, sagte er. „Mit kaltem Wasser badet es sich so schlecht.“ „Wie lange schon?“, fragte ich. „Schon eine ganze Weile“, sagte er. Dann fuhren wir los.

Mein Vater ist 72 Jahre alt, und würde man ihn nach objektiven Kriterien beurteilen, müsste man wohl sagen, dass er verwahrlost ist. Bis ich es geschafft habe, dieses Wort zu verwenden, hat es zwei Jahre gedauert.

Irgendwann kommen fast alle Kinder an den Punkt, an dem sich das Verhältnis zu ihren Eltern umkehrt. Er kommt oft unvermittelt. In einer Gesellschaft, die von Selbstbestimmung, Selbstverwirklichung und der Sehnsucht nach Freiheit geprägt ist, bringt uns niemand bei, was zu tun ist, wenn die eigenen Eltern es nicht mehr alleine schaffen, ganz egal, ob Alter und Krankheit sie schwächen oder ob es wie bei meinem Vater die Armut ist, die das gewohnte System zum Einsturz bringt. Ich musste das lernen. Ich lerne immer noch.

Anfangs ging es nur ums Geld. Eigentlich war mein Vater längst alt genug, in Rente zu gehen. Den kleinen Schreibwarenladen hatte er 2003 aufgegeben und sich einen Traum erfüllt. Er war wieder aufs Land gezogen. Raus aus der engen Dreizimmerwohnung in München-Milbertshofen, in der ich aufgewachsen war und die mein Vater nach der Scheidung alleine bewohnt hatte, zurück in das Haus seiner Eltern.

Mit diesem Text gewann die taz-Redakteurin Marlene Halser den Deutschen Reporterpreis 2014 in der Kategorie "Freistil".

Diese Geschichte erschien am 4./5. Januar 2014 in der taz.am wochenende. Andere Geschichten, Reportagen, Essays und Hintergrundberichte gibt es jeden Samstag am Kiosk, //taz.de/%21p4350%3E%3C/a%3E:eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.

Ein kleiner Einsiedlerhof mit Scheune und Stall, der nach dem Krieg ein paar Schweinen und einer Kuh Platz geboten hatte und auf dem meine Großmutter bis in die achtziger Jahre Hühner hielt. Hinter dem Haus wachsen knorrige Obstbäume in den Himmel. Die Bina, ein schmaler Bach, trennt den Grund von der Landstraße, die die niederbayerischen Ortschaften Aich, Hilling und Bonbruck verbindet.

Für meinen Vater, der mit 17 Jahren ohne ein Wort des Abschieds abgehauen war, ist dieses Haus immer ein Sehnsuchtsort geblieben. „Eines Tages ziehe ich wieder aufs Land.“ Diesen Satz habe ich als Kind ziemlich oft gehört.

Nun lebte er also dort. Statt aber die Vorzüge seines Alterswohnsitzes zu genießen, fuhr er nach wie vor jeden Tag mit einem klapprigen Mercedes-Sprinter nach München, um Kurierfahrten zu erledigen. Er wollte mit den paar hundert Euro aus dem Job Schulden abbezahlen, eine fünfstellige Summe, die einem mit knapper Rente unbezwingbar vorkommen muss – irgendwie schaffte er es aber, noch mehr anzuhäufen.

Seit ich mich erinnern kann, hat mein Vater über seine Verhältnisse gelebt. Alle zwei Jahre leaste er ein neues Auto. Einen Kombi oder einen Jeep-Verschnitt, wegen der Waren, die er für seinen Kiosk einkaufte – aber auch, weil das ein stattliches Auto ist. Mein Vater war auf seine Wagen immer sehr stolz. Er belieh das Haus seiner Eltern und nahm einen Kredit nach dem anderen auf. Die Ehe meiner Eltern zerbrach am ständigen Streit über Geld.

Comics und Schnaps: Er pachtete Kiosk um Kiosk

1958, als er als junger Mann nach München kam, heuerte mein Vater als Bauarbeiter an. Für die Deutsche Schlafwagengesellschaft bereiste er ganz Europa. Er scheint das Leben damals sehr genossen zu haben. Der Junge vom Dorf, der die Schule nur bis zur neunten Klasse besucht hatte und dessen Jugend aus Elvis-Presley-Platten, Motorrollern und der Eroberung der schönsten Frau im Petticoat bestanden hatte, reiste nun bis nach Hamburg oder Sizilien, amüsierte sich auf der Reeperbahn, aß frische Pasta und trank italienischen Wein.

Heute zeugen alte Bilder von dieser Zeit – und Postkarten verflossener Liebschaften, die ich im Grundschulalter in seinem Nachtkästchen fand. Auf einem Schwarz-Weiß-Foto sieht man einen jungen Mann mit gegelter Haartolle im weißen Feinrippunterhemd, eine Zigarette in der Hand, der lachend mit seinen Kumpels in einem leeren Abteil zecht.

Ich habe dieses Bild immer gemocht, weil es mich meinem Vater so nahebringt. Die Lust am Abenteuer, die Begeisterung für Nacht und Rausch, all das habe ich sehr gern von ihm geerbt. „Wäre ich bei der Bahn geblieben, hätte ich jetzt ausgesorgt“, sagt mein Vater heute oft. Damals aber wollte er selbstständig sein.

Also eröffnete er 1976 mit meiner Mutter, die er im selben Jahr geheiratet hatte, ein Wirtshaus, und als meiner Mutter die schwere Arbeit zu viel wurde, pachtete er Kiosk um Kiosk, um dort Zeitschriften, Comics, Zigaretten, Gummischlangen und Schnaps in kleinen Flaschen zu verkaufen. Viel eingebracht hat ihm das nie. Meine Mutter hielt das Geld zusammen.

Doch nach der Scheidung 1992 ging es für meinen Vater finanziell bergab. Als er das Inventar des letzten Ladens an seinen Nachfolger verkaufte, bevor er aufs Land zog, machte er noch mal ordentlich Miese. Deshalb verdingte er sich mit knapp siebzig Jahren als Kurierfahrer.

Mein Vater, das kann man wohl so sagen, hat sich selbst in eine desaströse Lage gebracht.

Das Ausmaß der finanziellen Katastrophe, in der er sich befand, offenbarte er mir nur sehr zögerlich, Rechnung für Rechnung und Brief um Brief – und als es längst zu spät war, um etwas abzuwehren.

Stabilität, Erwachsenwerden? Hat noch Zeit

Im Nachhinein frage ich mich oft, wo ich war, als mein Vater all diese falschen Entscheidungen traf. Ich muss dann feststellen: Überall, nur nicht bei ihm. Ich hatte lange studiert und die Freiheiten, die ein Magisterstudium bot, ausgekostet. Statt ständig zu lernen, ging ich auf Reisen und statt an meinem Lebenslauf zu feilen, stand ich nachts hinterm Tresen. Nach etlichen Praktika und einer Journalistenschule schlug ich mich schließlich als freie Journalistin durch. An meinen Vater habe ich damals keine Sekunde gedacht. Womöglich ist, wer selbst noch mitten in der Entwicklung steckt, dazu auch nicht in der Lage.

„Vierzig ist das neue Dreißig“, haben wir unter Freunden oft gesagt – in dem Gefühl, für alles, was mit Stabilität und Erwachsenwerden zu tun hat, noch unendlich viel Zeit zu haben.

Jetzt musste ich auf einmal Verantwortung übernehmen, weil man Vater sich zusehends weniger erwachsen benahm.

Zuerst war es nur die Steuererklärung, die er mich bat, für ihn auszufüllen. „Ich sehe nicht mehr so gut“, sagte er damals. „Aber ich sage dir, was du hinschreiben musst.“

Das Verhältnis zu meinem Vater war immer schon gut und schwierig zugleich. Ich teile seinen Wunsch nach Unabhängigkeit und einem Leben, das wild ist, außergewöhnlich und ein bisschen heldenhaft. Der Pragmatismus, die Vernunft und buchhalterische Kleinlichkeit meiner Mutter, die ihn in seinen Ehejahren vor dem finanziellen Ruin bewahrt hatten, waren auch mir oft fremd.

Trotzdem war er lange ein Mann, vor dessen cholerischen Ausbrüchen ich mich als Kind fürchtete. Als er meiner Mutter kurz nach der Trennung aus Eifersucht ein blaues Auge schlug, sprach ich viele Jahre kein Wort mit ihm und drückte den Hörer auf die Gabel, wenn er am anderen Ende der Leitung war.

Mit Mitte zwanzig nahm ich wieder Kontakt zu ihm auf, unser Verhältnis war ein anderes geworden. Er hatte die Kontrolle über mich verloren und war nicht mehr Vater im eigentlichen Sinne. Ich hatte gelernt, alleine zurechtzukommen.

Dass der Mann aber, den ich lange Zeit als stark und übermächtig empfunden hatte, jetzt, mit siebzig, plötzlich Hilfe brauchen könnte, fiel mir dennoch schwer zu akzeptieren. Ich fühlte mich schlicht nicht zuständig, so wie er auch längst nicht mehr für mich zuständig war.

„Brauchst du Geld, Papa?“ Er lachte, wie so oft. „Ja“

Gut zwei Jahre muss es wohl her sein, als ich ihm am Telefon diese eine Frage stellte. „Brauchst du Geld, Papa?“ „Ja“, sagt er einfach nur und lachte. Wie so oft. Humor ist für meinen Vater eine Lösung, die auf alles passt. Mit seiner Antwort habe ich trotzdem nicht gerechnet.

Dann brachte er seine Rechnungen – und meine Panik wuchs. Mahnungen von der Telekom für einen Festnetzanschluss, der nicht funktionierte, horrende Abschlagszahlungen vom Stromversorger, verursacht durch einen Elektroofen im Wohnzimmer, vom Finanzamt geschätzte Steuernachzahlungen. Und dazu die monatlichen Raten für die Bank, die ihm kaum Geld zum Leben ließen.

Gerne hätte ich einige der Rechnungen einfach beglichen. Aber ich war froh, wenn ich selbst über die Runden kam. Ich wohnte zur Untermiete in einer kleinen Einliegerwohnung und statt über die Gründung einer eigenen Familie nachzudenken, kam ich oft erst mittags aus dem Club. Ich fühlte mich wie eine Rettungsschwimmerin, die sich vorgenommen hatte, einen tonnenschweren Sack aus der stürmischen See zu ziehen und drohte, dabei gleich selbst zu ertrinken.

In meiner Not wandte ich mich an meine Mutter. Konnte Sie mir nicht einen Teil dieser Verantwortung abnehmen?

„Du solltest dich da am besten nicht einmischen“, sagte sie, als sie mit steifem Rücken in meinem Flohmarktsessel saß und ich ihr von den Rechnungen erzählte. Ihre Stimme wurde immer schriller, „dein Vater hat sich schließlich selbst in diese Lage gebracht!“ Seit der Scheidung haben meine Eltern nur das Allernötigste gesprochen.

Was meine Mutter in diesem Moment aber vergaß: Sie kann sich sehr wohl von ihrem Ehemann scheiden lassen, ich mich aber nur schlecht von meinem Vater.

„Du hilfst nicht ihm damit, sondern mir“, versuchte ich sie zu überzeugen. Schließlich seufzte sie und verhinderte mit hochgezogenen Augenbrauen, dass meinem Vater der Strom abgestellt wurde. Sie beglich die wichtigsten Rechnungen. Gelöst war damit langfristig aber gar nichts.

Und weil ich in diesem Moment gemerkt hatte, dass es außer mir niemanden gab, der meinem Vater helfen wollte, stellte ich schließlich gemeinsam mit ihm eine Kostenrechnung auf und vereinbarte einen Termin bei der Schuldnerberatung.

Der Mann, der uns im Rollkragenpullover in seinem kargen Büro empfing, war freundlich und wirkte betroffen. Mein Vater war zuvor extra beim Friseur gewesen. Nun knetete er sein ausgeblichenes Baseballkäppi im Schoß und beantwortete jede Frage. Die Lösung, die uns der Berater unterbreitete, schien ganz einfach. Weil mein Vater eine Rente unter dem Grundsicherungsniveau erhält, riet er ihm, seinen defizitären Kurierfahrerjob aufzugeben und Privatinsolvenz anzumelden. Auf einen Schlag wäre er so die Forderungen seiner Gläubiger los. Der einzige Haken: Das Haus müsse zur Tilgung der Schulden an die Bank fallen.

Ab wann müssen sich Kinder um ihre Eltern kümmern?

„Wenn ich aus diesem Haus ausziehen muss, dann sterbe ich“, sagte mein Vater, als er mit unsicheren Schritten das Büro der Schuldnerberatung verließ. Das Haus ist ein Teil von ihm geworden. Dort kommt er her, dort will er bleiben. Eine weitere Station hat er für sein Leben nicht vorgesehen.

Er wolle, sagte er also, die Schulden, die er gemacht hatte, abbezahlen. Das gebiete ihm sein Anstand – auch dann, wenn ich, wie ich immer wieder beteuerte, kein Problem damit hatte, die Schulden und damit auch das Erbe nach seinem Tod abzulehnen. Er habe sich das genau ausgerechnet. „Wenn ich die nächsten zehn Jahre meine Raten zahle, hab ich es geschafft.“ In zehn Jahren würde er über achtzig Jahre alt sein.

Nach dem Besuch bei der Schuldenberatung begann ich vor der Situation davonzulaufen. Ich war wütend, weil er das Notwendige nicht anerkennen wollte. Vor allem aber fühlte ich mich unfassbar allein. Mit Freunden über die Situation zu sprechen, fiel mir schwer. Niemand schien ein ähnliches Problem zu haben. Im Gegenteil: Meist waren deren Eltern rüstige Rentner, die es im Leben zu bescheidenem Reichtum gebracht hatten und ihren Lebensabend nun mit Wandern, Golf spielen und Reisen zubrachten – genau wie meine Mutter.

Ich hatte mir schon immer Geschwister gewünscht. Aber noch nie so sehr wie jetzt.

Wann beginnt eigentlich der Moment, in dem sich die Kinder wieder um ihre Eltern kümmern müssen und nicht mehr andersherum? Gilt das erst, wenn Eltern krank und pflegebedürftig werden? Oder fällt auch selbstverschuldete finanzielle Not, gepaart mit Sturheit, in diese Kategorie? Sollte ich versuchen, meinen Vater finanziell zu unterstützen und mich damit womöglich selbst gefährden? Oder musste er die Dringlichkeit seiner Lage selbst begreifen?

Ich vergrub mich in Arbeit, ging aus, fuhr in Urlaub. Ich wollte nicht über ihn und seine Misere nachdenken – aus Angst, dass diese Verantwortung viel zu groß sein könnte. Ich hatte aus gutem Grund bislang keine Kinder bekommen.

Hatte ich das Recht, für ihn Entscheidungen zu treffen?

Dann kam der Weihnachtsabend, an dem er zu mir ins Auto stieg und diesen Geruch mitbrachte. Den Kurierfahrerjob hatte er inzwischen verloren. Die Schulden aber waren noch da.

In meiner kleinen Münchner Wohnung drückte ich ihm ein Handtuch in die Hand und schickte ihn unter die Dusche. Als er nach sehr langer Zeit wieder aus dem Bad kam, wusste ich, dass es so nicht weitergehen konnte, dass ich sein Problem zu meinem machen musste. Die Frage war nur: wie?

Hatte ich das Recht, Entscheidungen für ihn zu fällen, auch solche, die ihm nicht gefielen? War das vielleicht sogar meine Pflicht?

Das alte Haus, das er bewohnt, ist über die Jahre mehr und mehr verfallen. Jedes Mal, wenn mein Vater die Haustüre öffnet, bröckelt der Beton aus dem Mauerwerk. Das Abzugsrohr des alten Wamsler-Ofens in der Küche, den man noch mit Holz befeuern muss, ist kaputt, sodass die Wände von Küche und Wohnzimmer vom Ruß ganz schwarz geworden sind.

Die beiden Katzen, die meinem Vater die einzige Abwechslung bieten, schnurren und haaren vor sich hin. Und die Weberknechte, die das Haus bevölkern, breiten ihre Spinnweben an den Wänden aus. Zum kaputten Boiler kam schließlich ein Wasserrohrbruch und in der Folge eine Rechnung des Wasserwirtschaftsamtes, die auch in die Tausende ging.

Mir wäre es am liebsten gewesen, mein Vater wäre in eine Sozialwohnung im Ort gezogen. Dort hätte er, fast blind, die Nerven im rechten Bein von der Diabetes angegriffen, alle nötigen Geschäfte in unmittelbarer Nähe gehabt.

Stattdessen hackt er nach wie vor Holz, um es im Winter warm zu haben, tastet sich über die steilen Treppen des Hauses und entziffert die Nummern auf seinem Handy mit einer Lupe. Briefe vom Amt kann er mithilfe des Vergrößerungsglases nur noch entziffern, wenn er damit ins Freie geht oder die Sonne durch die Fenster scheint. Abends sieht er fern, „Gute Zeiten, schlechte Zeiten“, oder sitzt mit den Katzen im dunklen Zimmer und denkt nach. Was er sonst so treibt – ich weiß es nicht.

Selbst wenn ich ihn zur Privatinsolvenz zwingen wollte: Konnte ich das überhaupt? Rein rechtlich? Wollte ich, wie mir Verwandte immer wieder rieten, meinem Vater das einzige nehmen, was ihm geblieben war: seine Freiheit, selbst über sein Leben entscheiden zu können.

„Du bist die einzige, auf die er hört“, sagen seine Geschwister

Ich war trotz allem seine Verbündete, schon immer gewesen, sein kleines Mädchen, die Tochter, auf die er stolz ist und auf deren Wort er etwas gibt – vielleicht gerade deshalb, weil ich so lange wütend auf ihn war. Der Gedanke, dieses Gefühl, seine Liebe, aufs Spiel zu setzten, tat mir weh.

Vielleicht, dachte ich, bin auch ich es, die mit der Situation zurechtkommen muss. Mein Vater hatte sich ja, allen Entbehrungen zum Trotz, in seinem Leben eingerichtet: Seit er kein Auto mehr hat, fährt er mehrmals in der Woche mit dem Bus in die nächste Ortschaft zum Einkaufen, kocht seine Mahlzeiten, so gut es geht, auf dem alten Herd in der Küche und ist trotz des wenigen Geldes, das er zur Verfügung hat, der Feinschmecker geblieben, der er immer war.

Ab und zu berichtet er mir, wie er aus nur wenigen Zutaten eine gute Suppe, einen Braten oder eine Nudelsoße zubereiten kann. Einsam scheint er sich nicht zu fühlen. Auf einen Freundeskreis, wie er mir so existenziell und wichtig erscheint, hatten weder meine Mutter noch mein Vater je großen Wert gelegt. Und nachdem die beiden Beziehungen, die mein Vater nach der Scheidung eingegangen war, wenig erfreulich geendet hatten, schien er ganz gern alleine zu sein. Er hatte ja die Katzen.

Weil ich wissen wollte, warum es mir so schwer fiel, seine Situation ohne Angst zu betrachten, ging ich zu einer Therapeutin, die ich schon seit Jahren kannte. Oft hatte sie mir im Gespräch geholfen, klarer zu sehen. Ihr Zimmer unter dem Dach und der Schaukelstuhl unter der Schräge, in dem ich immer saß, waren mir vertraut.

Wir sprachen vor allem über das gute Verhältnis zwischen mir und meinem Vater. Für viele ist er „ein blöder Hund“, wie man in Bayern sagt. Seine älteren Geschwister haben ihn oft so genannt. Ein wirklich ernstes Gespräch mit ihm zu führen, ist nicht leicht. Meist antwortet er in Kalauern. Und kommt man ihm mit einem guten Rat zu nahe, kann er sehr aufbrausend sein. Vor allem aber wittert mein Vater hinter jedem gut gemeinten Angebot ein Komplott.

Fragt man ihn, warum er sicher ist, dass ihm die Nachbarn, Bruder und Schwester, Stiefsohn und wer weiß noch alles, etwas Böses wollen, kann er sein Misstrauen nur mit vagen Andeutungen begründen. Wen man um etwas bittet – so seine Überzeugung – dem wird man zur Last. Und wer einem einen Gefallen tut, will später etwas dafür, sei es nur: sich einmischen. Also lässt mein Vater niemanden an sich heran - außer mich.

„Du bist die einzige, auf die er hört“, sagen seine Geschwister seit Jahren zu mir.

„Da ist viel Wärme“, sagte die Therapeutin über uns

Während ich im Schaukelstuhl wippte, wurde mir bewusst, warum das so ist: Ich bin die einzige, die ihn so nimmt, wie er ist, die es nicht besser weiß und sein Leben nicht in den Kategorien "normal" und "nicht normal" bemisst. Als ich davon erzählte, wusste ich plötzlich sehr genau, dass ich ihn genau darum zu nichts zwingen darf. Er würde einen Verbündeten verlieren. Und ich auch.

„Da ist so viel Wärme zwischen Ihnen“, sagte die Therapeutin am Ende der Sitzung. „Behalten Sie sich das gute Gefühl.“ Danach ging es mir besser. Ich wollte das gute Gefühl behalten. Also lud ich das Auto eines schönen Sommertages voller Papiertüten mit Biokost und ökologisch abbaubaren Putzmitteln und fuhr die knapp neunzig Kilometer zu ihm.

Vier Tage wollte ich bleiben, ihm bei seinen Erledigungen helfen, ihn verstehen und so herausfinden, was er wirklich braucht und was ich für ihn leisten kann.

Vielleicht ist es am wichtigsten, dass ich einfach mal für ihn da bin, dachte ich.

In meiner Erinnerung – und vermutlich auch in der meines Vaters – war die Küche hier früher ein warmer, behaglicher Raum gewesen.

Als meine Großmutter noch lebte, wirbelte sie hier in einer blauen Kittelschürze, die Haare unter einem Kopftuch versteckt, zwischen dem Bratrohr und den auf dem Herd dampfenden Kochtöpfen umher, buk Dampfnudeln, schnitt Pfannkuchen zu dünnen Streifen als Einlage für die Suppe und übergoss die eingeritzte Kruste des Schweinebratens im Rohr in regelmäßigen Abständen mit heißem Wasser.

Jetzt war die Küche eine Art Geisterort: die Schränke und die Tassen und Teller darin ganz schwarz; die wenigen Lebensmittel standen aufgereiht neben den Katzenfutterdosen auf der Anrichte.

Zwei Tage putzte ich, weil ich sonst in all dem Dreck nicht kochen konnte. Ich schrubbte über die Fließen und über Schranktüren. Generationen von Töchtern haben das in den vergangenen Jahrzehnten für ihre alleinstehenden Väter wohl so gemacht. Ich aber betrat Neuland, als ich mir die grünen Gummihandschuhe überstreifte, Wasser und Spülmittel in einem Eimer mischte.

Bislang, das fiel mir dabei auf, hatte sich mein Leben ganz um mich gedreht. Meine Eltern waren nur Statisten, die mich zwar nach Kräften unterstützten, mir nicht zu viel dreinreden sollten und die - so nahm ich an – gänzlich unabhängig von mir funktionierten.

Seit der Scheidung waren wir alle drei Einzelkämpfer. Nur schien mein Vater mittlerweile nicht mehr allein kämpfen zu können.

Als die Küche einigermaßen bewohnbar war, kochte ich ihm eine deftige Suppe, die wir an einer Bierbank draußen im Hof aßen. Wir lachten über seine albernen Witze, die ich seit Jahren kannte. Danach fuhren wir in das nächste Dorf, um in der Gemeinde über den Verkauf von einem Teil seines Grundstücks zu verhandeln und um einige Besorgungen zu machen.

Als es langsam zu dämmern begann, waren wir wieder zu Hause und schürten gemeinsam das Feuer im Ofen an. Ich ging gerade die Vorräte durch und überlegte, was wir zu Abend essen konnten, als mein Vater plötzlich wirr zu reden anfing. Wie jemand, der – bereits im Einschlafen begriffen – noch versucht, auf Fragen zu antworten, dessen Gedanken aber längst in einem Traum gefangen sind.

„Was ist denn los?“ fragte ich und muss dabei ängstlich geklungen haben. „Ich muss Insulin spritzen“, sagte er, nun selbst nervös, „gib mir bitte die Kanülen.“ Er nestelte bereits an der Verpackung der Nadel herum, mit der er sich in den Finger stechen und einen Bluttropfen erzeugen muss, um den Blutzuckerspiegel mithilfe eines elektronischen Geräts messen zu können.

Vier Tage wollte ich bei ihm sein. Nach zweien ging ich

Als er sich die Injektion in die Bauchfalte gejagt hatte, atmeten wir auf. Meine Zuversicht jedoch, dass ich meinem Vater den größten Gefallen tue, wenn ich ihn nur regelmäßig besuche, war verflogen.

In diesem Moment hatte ich nur noch Angst, ihn zu verlieren, dass er sterben würde, allein und ohne dass es jemand mitbekam. Plötzlich hielt ich die Enge, die Kälte und den Dreck nicht mehr aus.

Ich reiste ab, obwohl ich noch zwei Tage hatte bleiben wollen. In meiner eigenen, kleinen Wohnung hatte ich mich noch nie so wohl gefühlt wie an diesem Abend.

Einige Wochen später rief ich eine Familienkonferenz bei meinem Onkel ein. Gemeinsam saßen wir in der geräumigen Wohnung meines Onkels und seiner Frau in einem Vorort südlich von München und aßen Ratatouille. Ich hatte mittlerweile den Plan gefasst, es mit einer Art Haushälterin zu versuchen, die das Haus ein wenig auf Vordermann bringen sollte und regelmäßig nach ihm sehen. Vielleicht würde mein Vater eine gänzlich fremde Person, die für diese Aufgabe bezahlt würde, akzeptieren. Nur wer eine solche Haushälterin bezahlen sollte, war nicht klar. Also schlug ich vor, die Kosten mit den engsten Verwandten meines Vaters zu teilen. Alle schwiegen betreten.

Nein, Geld wolle man nicht bezahlen, erklärte mir meine Tante. Schon einmal habe man meinem Vater Geld geliehen – und es nie zurückbekommen.

Einige Wochen später telefonierte ich mit einer älteren Dame, die nicht weit von meinem Vater entfernt wohnt. Nachbarschaftshilfe, dachte ich, das könnte es sein. Menschen, die bereit sind, anderen ehrenamtlich oder für wenig Geld zu helfen. „Mit schwierigen Fällen komme ich gut zurecht“, sagte die Frau, die am Telefon sehr fröhlich und pragmatisch klang.

„Bitte, sag ja“, sagte ich wenig später zu meinem Vater. „Tu es für mich. Ich bin so weit weg und ich mache mir Sorgen um dich.“

„Okay“, sagte mein Vater nach einer längeren Pause. „Ab Januar kann sie kommen, wenn dir das so wichtig ist.“

Es ist ein Anfang.

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