Neuer Film von Ulrich Seidl: Bis zur Kenntlichkeit entstellt

In Österreich sorgte „Im Keller“ für einen politischen Eklat. Seidl ergründet darin geschlossene Gesellschaften, in denen Normalos ihr Unwesen treiben.

Das Filmstill zeigt Josef Ochs aus dem Burgenland. Bild: Neue Visionen

Das Kino kann auch dort politische Wirkung entwickeln, wo es dies gar nicht beabsichtigt. Ulrich Seidls jüngster Film, „Im Keller“, brachte kurz nach seiner Uraufführung in Venedig Lokalpolitiker aus dem Burgenland ins Trudeln und den Regisseur in eine unangenehme Lage. Denn dieser sah sich jäh gezwungen, nicht nur die Authentizität des filmisch Dargestellten zu beteuern, sondern auch der Anschuldigung entgegenzutreten, er habe manipuliert, Statisten bezahlt und dafür missbraucht, „Echtheit“ vorzuspiegeln.

Hintergrund der Unstimmigkeiten: Zwei burgenländische ÖVP-Gemeinderäte mussten im September 2014 auf Druck ihrer Partei alle politischen Funktionen zurücklegen, weil sie in einer Szene des Seidl-Films aufgetreten waren; darin verbringen sie einen gemütlichen Abend im Keller eines Freundes, um stupide Witze zu reißen und Schnaps in sich hineinzuschütten – umgeben von Hakenkreuzflaggen, Stahlhelmen und Reichsadlerwandschmuck, unter einem großformatigen Gemälde, das Hitler in Feldherrnpose zeigt.

Die konservative österreichische Volkspartei, die ein derart lockeres Verhältnis zu den Insignien des NS-Terrors nicht hinnehmen konnte, hatte auf die „Nazikeller-Affäre“ mit Entlassungen reagiert, sprach aber weiterhin von „verzerrter Darstellung“.

Nun ist bekanntlich nichts, was in einem Film auftaucht, ganz „real“. Noch die zuverlässigsten Dokumentaristen schließen per Bildausschnitt und Montage mehr aus als ein, treffen Entscheidungen, präsentieren „die Wirklichkeit“ nach ihrem Willen und Gewissen. Die ungeahnt heftig geführte Debatte über „Im Keller“ warf somit sehr alte Fragen wieder auf: Wie „inszeniert“ darf ein Dokumentarfilm aussehen, um als „wahr“ begriffen zu werden? Und beutet Seidl die Menschen aus, die er vor seine Kamera setzt?

„Im Keller“. Regie: Ulrich Seidl. Österreich 2014, 85 Min. Filmstart: 4. Dezember 2014

Er hat, wie stets, nur eine Situation für seine Inszenierung eingerichtet, die sich ganz ähnlich ungezählte Male ohne Kamera ereignet hat. Und die Männer am Nazistammtisch erhielten, wie alle anderen auch, die im Film „Im Keller“ auftreten, eine Aufwandsentschädigung – was sie nicht zu Schauspielern macht und an der Richtigkeit der Darstellung nichts ändert.

Es wäre falsch, in Seidl einen Regisseur zu sehen, der Menschen und Situationen aus ihren Zusammenhängen reißen, gar seinen Figuren Unrecht tun wollte. Der Moralist (und Realist) in Ulrich Seidl ist viel zu stark, um zur Phantasterei zu neigen. Er spitzt zu, überhöht die Dinge, oft durchaus in der Absicht, den beklemmenden Witz, der sich auch im Abgründigen und Todtraurigen findet, wachzurufen; Seidl entstellt zur Kenntlichkeit. Er fertigt eine Art Destillat des Realen an, die Essenz dessen, was ihm die Menschen, die er in ihren Lebensräumen filmt, an Geschichten und Weltbildern eben bieten.

Unwiederholbares entsteht

Gegen die saubere Trennung von Dokumentarischem und Fiktionalem polemisiert Ulrich Seidl bereits seit mehr als zwei Jahrzehnten. In Spielfilmen wie „Hundstage“ (2001) oder „Import Export“ (2007), die grundsätzlich ohne Drehbücher und genaue Dialogvorgaben außerhalb von Filmstudios, in Privathaushalten oder Spitals-Sterbestationen entstehen, agieren jede Menge Amateure und Selbstdarsteller. Es geht in diesen Filmen immer auch um den Genius loci und die augenblickliche Verfasstheit der Akteure: In Seidlfilmen entsteht vor der Kamera Unwiederholbares, werden Wirklichkeitsspuren improvisierend eingebracht.

Die Dokumentar- und Essayfilme dieses Regisseurs fassen das Realitätsproblem aus entgegengesetzter Richtung ins Auge: Arbeiten wie „Mit Verlust ist zu rechnen“ (1992), „Tierische Liebe“ (1996) oder „Jesus, Du weißt“ (2003) flirten mit der Stilisierung künstlicher komponierter Einstellungen, fassen faktisch Gedecktes, tatsächlich Erlebtes in Sequenzen und Motive, die kaum zu glauben sind.

Die Konsequenz daraus ist irritierend, es entstehen kinematografische Kippbilder: Das Dokumentarische wirkt bei Seidl bisweilen irrealer als seine mit Schauspielern besetzten Fiktionen. Seine Bilder betonen das „Gemachte“ ihrer Entstehung, brechen mit der Illusion des „zufällig Eingefangenen“. Erlogen sind sie deshalb nicht.

Geschlossene Gesellschaften

Im Film „Im Keller“ werden geschlossene Gesellschaften studiert, in denen „Normalbürger“ ihr Unwesen treiben: „Im Keller“ zeigt eine Reihe biederer, zugleich extremer Existenzen, die im Souterrain ihren Leidenschaften nachgehen – Nachrichten aus dem Leben von Jagdliebhabern, Baby-Fetischisten und Nazi-Nostalgikern, von Waffennarren, Masochistinnen und Folterkammerdienern. Um das Leben eines jungen Paares kreist ein Hauptthemenblock dieses Films: Er, übergewichtig und großflächig tätowiert, kümmert sich nackt um den Haushalt, während sie, untätig, kaum Notiz von ihm nimmt. Er sei ihr „Ehesklave“, erläutert sie, der ihr 24 Stunden täglich, siebenmal die Woche zu dienen habe.

Das Paar führt seine sadomasochistische Praxis bereitwillig vor. Sie benützt den Mann als Beinstütze, seine Zunge als Toilettenpapier und WC-Putzlappen. Sie liebe ihren Sklaven eben „abgöttisch“, sagt sie, daher bestimme sie über alles, was er habe – und mutet ihm in ihren „extrem dominanten“ Stimmungen gern auch verschiedene Analobjekte und beispielsweise einen Hodenseilzug zu. Die interessanteste Einstellung zeigt den in Lust und Schmerz aufgelösten, stöhnenden Mann; es bleibt unerforschlich, was ihm gerade geschieht, denn die Unterkante des Bildes verläuft auf Höhe seines Nabels.

Kampusch und Fritzl

Der Keller ist für Ulrich Seidl ein altes Faszinosum. Bereits 2009 hatte Seidl die Dreharbeiten zu „Im Keller“ aufgenommen, der an eine Idee anschließt, die ihn schon während der Recherchen zu „Hundstage“ ereilt habe. Die Kriminalfälle Kampusch und Fritzl dienten ihm als weiterer Anstoß, sich „in den Untergrund meines Landes zu begeben“, erklärte er schon vor Jahren. Denn es gebe „gerade bei uns Österreichern eine Mentalität, Dinge unter den Teppich kehren zu wollen“; er vermute, dass „dieser Verschleierungsdrang aus einer Art Minderwertigkeitskomplex resultiert, aus einem Kaiserreich zu einem kleinen, gewöhnlichen Land geworden zu sein“.

Am meisten aber interessierten ihn „das Verborgene und die menschlichen Abgründe, die sich im Abgrund eines Kellers spiegeln“. Auch in Seidls Elternhaus im Waldviertel hatte es einen feuchtkalten Keller gegeben: Als Kinder hätten er und seine Brüder furchtbare Angst vor diesem Raum gehabt, sagt Seidl. Er selbst sei dort oft eingesperrt worden. Der Keller könne „ein Ort der Freiheit“ sein, aber eben auch „ein Gefängnis“.

Künstlerisch bietet Seidls jüngstes Werk, abseits der parteipolitischen Querelen und filmästhetischen Debatten, wenig Neues. Die durchaus virtuose Präsentation unterirdischen Freizeitverhaltens folgt den inzwischen etablierten Methoden des Filmemachers. Nach der zur Welt hin offeneren „Paradies“-Trilogie zieht sich Ulrich Seidl mit „Im Keller“ wieder zurück in die Absurditäts- und Depressionszonen, als sehe er keinen Weg, den von seinen Kellerparallelwelten geforderten Charakteristika zu entgehen: Kälte, Düsternis, Verengung. Und die Einsamkeit bleibt Seidls Generalthema. Sie hat die Menschen schrullig gemacht, in ihren Zwangsvorstellungen arretiert. Das konsequent gesetzte Schlussbild zeigt eine korpulente junge Sexarbeiterin, die sich nackt und gequält in einem geschlossenen Käfig windet.

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