Eine Heldin der Arbeiterklasse: Man nannte sie Emmely

Barbara Emme erfuhr die Härten des Kapitalismus. Sie war Aktivistin, Betriebsrat, Vorbild. Bekannt wurde Emmely durch zwei Pfandbons 2010.

Barbara Emme in ihrer Wohnung, 2010. Bild: Imago/Thomas Lebie

BERLIN taz | Der Kampf der Kassiererin Babara Emme begann mit zwei Schnipseln Papier und einer Kündigung, die sie nicht hinnehmen wollte. Emme, besser bekannt unter dem Spitznamen Emmely, ist die widerständige Kassiererin von Kaiser’s, der 2008 fristlos gekündigt wurde, weil sie zwei liegen gebliebene Pfandbons im Wert von 1,30 Euro eingelöst haben soll.

Nach zweieinhalb Jahren Rechtsstreit wurde in letzter Instanz ihre Kündigung 2010 für unwirksam erklärt. Und weil sie während des Prozesses so hartnäckig für ihr Recht einstand, wurde sie für viele zum Vorbild. In einigen Medienberichten wurde sie gar zur „Jeanne d’Arc aller Lohnknechte“ stilisiert. Wie erst jetzt bekannt wurde, ist Barbara Emme am 16. März unerwartet im Alter von 57 Jahren an Herzversagen gestorben.

Emmely hat viele Menschen bewegt. Ihr Sieg vor dem Bundesarbeitsgericht rührte an etwas, an das viele nicht mehr zu glauben schienen: dass ein einzelner Mensch etwas ausrichten kann gegen die Justiz, die Politik, die Menschen „da oben“. Barbara Emme verkörperte eine „von unten“.

Sie stammte aus einer Arbeiterfamilie in Mecklenburg und wurde zur Supermarktkassiererin von nebenan. Ihr langjähriger Anwalt Benedikt Hopmann erinnert sich, dass nach dem Urteil Medienanfragen aus allen möglichen Ländern kamen. Der Sender al-Dschasira, der Emme interviewte, bezeichnete sie als „working class hero“ – eine „Heldin der Arbeiterklasse“.

Das Bienenstich-Urteil

Es ist Emmes Verdienst, dass sich die Rechtsprechung bei Bagatellkündigungen verändert hat. Zuvor basierte alles auf einem Urteil von 1984. Eine Angestellte hatte ein Stück Bienenstich verzehrt und wurde fristlos gekündigt – zu Recht, entschied das Bundesarbeitsgericht damals. Bis Emmely kam, orientierte sich die Rechtsprechung 26 Jahre lang an diesem arbeitgeberfreundlichen Urteil.

Wir kennen die Bilder von überfüllten Flüchtlingsschiffen, die Storys von Schleusern. Aber wie sieht der Alltag einer Flucht aus? Wie verhandelt man mit Schleusern, wie genau überquert man Grenzen? In der taz.am wochenende vom 28./29. März 2015 rekonstruieren wir den Weg der drei jungen Syrer Amjad, Iyad und Osama und dokumentieren ihn mit ihren eigenen Fotos. Dazu gibt es die Multimedia-Reportage auf taz.de. Außerdem: Kann man Kinder bald nur noch in Großstädten bekommen? Wie eine Stadt um ihre Geburtsstation kämpft. Und: Ein Leben im Kornfeld. Unterwegs mit Jürgen Drews. Am Kiosk, eKiosk oder gleich .

Obwohl viele Juristen es für unmöglich hielten, eine jahrzehntelange Rechtsprechung zu kippen, ließ sich Emme nicht beirren. „Wer aufgehört hat zu kämpfen, hat schon verloren!“ Das war ihr Leitsatz.

Barbara Emme ging es nicht ums Geld, sondern ums Prinzip. Sie lehnte jeden Vergleich ab. Sie wollte ihren Job zurück. Den bekam sie auch – zwölf Tage nach dem Urteil arbeitete sie in einer neuen Filiale, wie gewünscht in Wohnortnähe, zehn Minuten Fußweg von zu Hause. Aber damit war ihr Weg nicht zu Ende.

In den letzten fünf Jahren hat sie sich ein großes Netzwerk aufgebaut. 2011 flog sie zur Weltfrauenkonferenz nach Venezuela. Als Koautorin schrieb sie zwei Bücher, wurde zu Podiumsdiskussionen eingeladen. Sie reiste öfter nach Paris, um sich dort mit Gewerkschaftern zu treffen.

Die aktive Gewerkschafterin

Bei der Stiftung „Menschenwürde und Arbeitswelt“ war sie im Vorstand, sie begleitete gelegentlich Menschen bei ihren Prozessen vor Gericht. Noch Anfang März lud sie mit anderen zu einer Veranstaltung der Gewerkschaft Verdi ein, um die aktuelle Situation im Einzelhandel zu diskutieren. „Sie war und blieb eine aktive Gewerkschafterin“, schrieben ihre Töchter nach ihrem Tod in einer Pressemitteilung.

Aber Emmely saß auch bis zuletzt an der Kasse des Supermarkts im Berliner Stadtteil Hohenschönhausen und zog die Waren des täglichen Bedarfs über den Scanner. Menschen, die sie noch aus ihrer alten Filiale kannten, kamen vorbei, nur um bei ihr einzukaufen oder ihre Pfandbons einzulösen. Manche baten sie um ein Autogramm. Einige ihrer Kolleginnen, die ihr zunächst mit Misstrauen begegneten, fassten Vertrauen. 2014 wurde Emme in den Betriebsrat gewählt.

Bei einem Treffen in ihrer Wohnung vor zwei Jahren sagte sie: „Ich bin eine einfache Person, die etwas gewagt hat. Nicht mehr und nicht weniger.“ In dieser Bescheidenheit stimmt das nicht. Denn die in der DDR aufgewachsene Fachverkäuferin für Waren des täglichen Bedarfs war schon seit ihrem Ausbildungsbeginn 1974 in der Gewerkschaft. Emmely sei eine Frau gewesen, die „die gesellschaftlichen Verhältnisse aus eigener Erfahrung sehr genau kannte“, sagt ihr Anwalt Hopmann.

Seit 1977 arbeitete sie im Einzelhandel. Zunächst bei der DDR-Handelskette HO, die dann in den 1990er Jahren schrittweise von Kaiser’s übernommen wurde. So gesehen erzählt ihr Leben auch einen unliebsamen Teil deutscher Geschichte. Denn mit der Wiedervereinigung erfuhr sie die Härten des Kapitalismus. Sie, mit ihrem alten DDR-Vertrag, stand vergleichsweise gut da. Aber sie erlebte mit, wie sich das Arbeitsklima änderte: Weniger Arbeitskräfte und mehr Effizienz, Lohnkürzungen und mehr Arbeitsstunden. Auch das spornte sie inmitten der Finanzkrise an, sich 2007 an den gewerkschaftlich getragenen Streiks zu beteiligen, was ihrer Meinung nach auch der eigentliche Kündigungsgrund war. Sie sorgte sich – nicht nur um sich selbst.

Letztlich wurden kleine Schnipsel zu etwas Großem. In ihrer Wohnung hatte Emme einen Ordner, in dem sie Erinnerungen abheftete. Dinge, für die sie dankbar war. Darin klebte auch ein Pfandbon, den ihr eine fremde Frau geschenkt hatte. Darauf stand „Meine Hochachtung“.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.