Essay 70 Jahre Tag der Befreiung: Zeitumstellung von neun auf acht

In der Ukraine wird in diesem Jahr am 9. Mai und 8. Mai des Endes des Zweiten Weltkriegs gedacht. Wie, muss jeder selbst entscheiden.

Gedenkveranstaltung im ukrainischen Parlament am 8. Mai 2015. Bild: reuters

KIEW taz | Der zweite Weltkrieg hat meine beiden Großväter gefressen. An sie blieb nicht einmal die Erinnerung der eigenen Kinder. 1941 war meine Mutter gerade einmal drei Jahre, und Mamas Bruder, Bronislaw, war nur ein Jahr alt. Der Vater meiner Mutter kämpfte auf Seiten der Sowjetunion. Mein Vater war damals genauso alt wie meine Mutter – drei Jahre. Der Vater meines Vaters kämpfte ebenfalls gegen die faschistischen Horden. Es gibt keine Erinnerungen an sie, es gibt nicht einmal Fotografien von ihnen. Als hätte es nie Frieden gegeben. Sie sind im Krieg verschollen, er hat sie einfach verschlungen.

Die Generation der Väter, der Kriegskinder, wurde zumeist von Frauen groß gezogen. Die Familie meiner Mutter wurde in die Nähe der Brjansker Wälder, eines der bedeutendsten sowjetischen Partisanengebiete, zwangsweise umgesiedelt. Mein Vater überlebte den Krieg in Kiew. Mutter und Vater erinnern sich vor allem an den Hunger, mehr als an Angst, Erschießungen, Tod und Tränen.

So funktioniert nicht nur kindliche Erinnerung. Als Kind wurde ich politisch korrekt aufgeklärt und hasste natürlich die Nazis – man nannte sie allerdings Faschisten. Meine Meinung über die Deutschen war im Großen und Ganzen schlecht. Ich hasste den Krieg und schrieb von gerechtem Zorn erfüllt Schularbeiten über dieses Thema, für die ich dann bei Schüler- und Jugendwettbewerben, bei Olympiaden ausgezeichnet wurde.

Wie so ziemlich jede Sowjetfamilie gingen wir am 9. Mai in den Kiewer „Ruhmespark“ und legten am Denkmal des unbekannten Soldaten Blumen nieder. Das war feste Familientradition. Da meine Eltern nicht wussten, wo ihre Väter umgekommen waren, hatte diese Ehrung der verschollenen Soldaten große symbolische Bedeutung.

Fliedersträuße für Veteranen

Es war selbstverständlich, dass ich den Veteranen in unserer Umgebung Fliedersträuße schenkte. Ich kann mich erinnern, dass ich in unserem Block an einigen Dutzend Wohnungen mit Blumen im Arm klingelte. Mit der Zeit wurden es immer weniger, die Veteranen gesellten sich zu jenen Bekannten und Unbekannten, die in den vierziger Jahren von uns gegangen waren. In dem Wohnblock mit seinen 128 Wohnungen gibt es nun keinen einzigen mehr, der an Kämpfen beteiligt gewesen wäre.

Einmal im Jahr ging unsere Schule in den „Ruhmespark“, die Jungen standen reglos am Grab der gefallenen Soldaten und wir Mädchen staksten mit unseren langen Beinen in weißen Strümpfen umher. Die Maimücken traktierten gnadenlos unsere Beine und ich dachte, die Verstorbenen hätten es gar nicht so übel, die würden wenigstens nicht von den Mücken gefressen. Zugleich schämte ich mich, so etwas zu denken.

Außerdem kamen Veteranen zu uns in die Schule. Sie erzählten eigentlich immer die gleiche Geschichte. Später unterhielt ich mich mit dem Schriftsteller Anatolij Dimarov und seiner Frau. Der Krieg hatte in ihm tiefe Spuren hinterlassen und er erzählte ganz andere Geschichten als die Veteranen in der Schule – herzzerreißende Geschichten, Geschichten, die sprachlos machten und sich nicht auf schwarz und weiß, gut und böse reduzieren lassen.

Es war nur schwer zu ertragen, dass damals nicht nur die Anderen, die Fremden die eigenen Leute umbrachten. Nicht nur die Nazis, Verräter und Kollaborateure, sondern auch die eigenen Leute töteten die Ihrigen, vergossen ihr Blut. Niemand wurde vergessen, weil keiner bereit war, sich zu erinnern. Erst, wenn man sich erinnern kann, kann man vergessen.

Seit den 1990er Jahren engagiert sich unsere Familie, Erinnerung und Gedenken an die Gefallenen und Verschollenen jener furchtbaren Zeit zu rekonstruieren und zu bewahren. Wir unterstützen auch andere Familien dabei zu erfahren, wo ihre Töchter und Söhne die letzte Ruhe gefunden haben.

Die neue Angst

Was mir allerdings wirklich Angst macht, ist, dass die Ukrainer im 21. Jahrhundert wiederum ihren Toten nachspüren müssen, recherchieren, wo und wie sie umgekommen sind. Als Kind wusste ich, dass die Ukraine den Nazismus besiegt hat und hinsichtlich der Opferzahlen zur „preisgekrönten“ Dreifaltigkeit mit Belarus und Russland gehört. Deshalb hat die Ukraine seinerzeit auch eine eigene Stimme in der UNO erhalten.

Wer hätte je gedacht, dass meine Mitbürger, ukrainische Patrioten, Soldaten, die sich freiwillig gemeldet haben, Journalisten und internationale Beobachter sich nun einer tödlichen Bedrohung ausgesetzt sehen, da terroristische Gruppen, die aus einem benachbarten Land kommen (im Namen der Sieges über den Faschismus) und Soldaten aus Russland sowie von der Anarchie besoffene Mitbürger, nun anderen die Zähne ausschlagen, sie prügeln, ihre Bäuche aufschlitzen, sie verstümmeln, Verhöre durchführen und unglaublichen psychischen Druck ausüben, demütigen und schließlich morden.

Und dieser ganze Wahnsinn wird anitfaschistische Operation genannt. Absurd? Ja, absurd. Niemand konnte sich vorstellen, dass im Namen der Gefallenen derartige Dinge geschehen, dass alle Kämpfer der westukrainischen Partisanen (UPA) als Faschisten und Henker bezeichnet würden. Kämpften diese Menschen nicht auch für ihre Heimat? Kämpften sie etwa nur mit den Kommunisten, aber nicht mit den Nazis?

Und wieder beginnt man die Welt schwarz-weiß zu malen. Russlands Propaganda strengt sich ziemlich an, den „Tag des Sieges“ als Symbol zu vermarkten, so wie Matrjoschkas und Wodka. Es sieht ganz danach aus, dass der 9. Mai von Leuten okkupiert wurde, mit denen ich nicht in einem Schützengraben sitzen möchte, doch nun lebe ich mit ihnen in einem Land.

Gedenken statt Streit um ein Datum

Und solchen Leuten soll ich den „Tag des Sieges“, den 9. Mai überlassen? Jener Tag, der solch eine persönliche Bedeutung für meine Familie besitzt und für den meine Nächsten so sehr gelitten haben? Die Befreiung der Köpfe vom Kommunismus, den die Ukraine gerade durchmacht, wird dazu missbraucht, das Volk wieder einmal aufzuhetzen, als würde gemeinsam mit der Demontage der Lenindenkmäler und der kommunistischen Partei, der Umbenennung von Orten, Plätzen und Straßen auch das Gedenken an die Gefallenen des Großen Vaterländischen Krieges demontiert – übrigens wird er schon längst als Zweiter Weltkrieg bezeichnet.

All das bringt einige Gestalten um den Verstand. Doch genau das ist eine effektive Therapie gegen das Zombiesyndrom sowjetischer Propaganda, das ich und so viele meines Alters aus eigener Erfahrung kennen. Wir sollten endlich Waffenstillstand schließen und das Gedenken der Gefallenen ehren, jener vom Krieg Traumatisierten und Verstümmelten, und uns nicht um ein Datum streiten. So halten wir das Andenken an unsere Familie wohl kaum in Ehren, und noch weniger, wenn wir den Anderen ihre Erinnerung abstreiten, doch vor allem, wenn wir zulassen, dass das Andenken zu politischen Zwecken missbraucht wird!

Mir hat man den 9. Mai weggenommen, geraubt und ich soll nun den 8. Mai hochhalten. Und ebenso das Jahr 1939 und nicht 1941. Das ist ein wichtiger Unterschied und wahrscheinlich ist es in historischer Hinsicht auch richtig. Doch es ist absurd und bösartig zu denken, dass mich diese Überlegung sogleich zu einer Anhängerin der Nazi-Ideologie mache und einzig die Feier des „Tags des Sieges“ würde dem Menschen die Weihen des wahren Antifaschisten verleihen. Deshalb widerstrebt es mir zutiefst, dass eine bösartige und aggressive Gruppe meine Kindheit stiehlt und für ihre Zwecke jene beiden jungen Männer missbraucht, meine Großväter, die gerade noch das biologische Überleben unserer Familien sichern konnten.

Der 9. Mai war – zumindest für mich – nie ein lautstarker Festtag, schwerlich lässt sich bei so vielen Toten ein klangvoller Sieg feiern. Er war voll stiller Trauer, aber auch vom kindlichen Glauben an den Sieg des Guten erfüllt. Und heute gedenke ich aller, die umgekommen sind, die jene Zeit körperlich und seelisch verstümmelte, um mich an all jene zu erinnern, die die heutige Zeit verstümmelt, und an solche, die sich nicht an die Geschichte erinnern wollen.

Ich werde mit einem Blumenstrauß in den „Ruhmespark“ gehen, mit einem Blümchen im Knopfloch meines schwarzen Blazers am 8. Mai, um mich daran zu erinnern, was sich nicht mehr gut machen lässt, derer zu gedenken, die nicht zurück gekehrt sind und mich weiter dafür einzusetzen, dass der gegenwärtige Krieg endet.

Aus dem Ukrainischen übersetzt von Alexander Kratochvil.

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