: Arbeitsmarkt-Krisen quälen schon im Mutterleib
Die Säuglingssterblichkeit ist in Nordrhein-Westfalen höher als in allen anderen Bundesländer. Das war schon immer so, sagen Sozialmediziner, und hängt wahrscheinlich mit Armut und Migration zusammen. Obwohl dieser Trend seit Jahren bekannt ist, sind die Ursachen unerforscht
In Gelsenkirchen erleben durchschnittlich 8,5 von 1.000 Säuglinge nicht das zweite Lebensjahr, in ganz Nordrhein-Westfalen waren es in den vergangenen vier Jahren durchschnittlich fünf von 1.000 Babies: Das ist die höchste Säuglingssterblichkeitsrate aller Bundesländer in Deutschland, zeigt eine aktuelle Studie des Landesinstituts für den öffentlichen Gesundheitsdienst (LÖGD). Die Ruhgebietsstadt Gelsenkirchen ist solche Negativrekorde gewohnt: In der Ruhrstadt sterben schon seit Jahren die meisten Babies – gleichzeitig ist die Arbeitslosenquote die höchste des Landes.
Ein Zusammenhang, der rein wissenschaftlich bloße Spekulation ist, den in der Stadtverwaltung aber alle für sehr wahrscheinlich halten. „Woran soll es denn sonst liegen?“, fragt Stadtsprecher Martin Schulmann.
Umweltverschmutzung hat die Todesrate nichts zu tun. Das hat das Gelsenkirchener Gesundheitsamt schon vor einigen Jahren ausgeschlossen. Es gibt inzwischen eine Familienhebamme, die so genannte Risikofamilien schon in der Schwangerschaft berät. Und das Risiko heißt eigentlich immer Armut, haben ihre Erfahrungen gezeigt. „Arbeitslose und arme Menschen achten häufig weniger auf sich“, sagt Schulmann. „Das verschlechtert auch die Überlebenschancen ihrer Kinder.“
Das glaubt auch Bernhard Ibach, Leiter der Kinderklinik des Sana-Klinikums Remscheid – einer weiteren Stadt, in der überdurchschnittlich viele Babies sterben und gleichzeitig viele Menschen arbeitslos sind. „Arbeitslose und arme Menschen ernähren sich oft schlechter und haben häufiger Suchtprobleme und Stress“, sagt Ibach. „Das wirkt sich schon in der Schwangerschaft auf die Kinder aus.“ Nordrhein-Westfalen sei das größte Ballungsgebiet Europas, dadurch sei überall die Sozialstruktur zwangsläufig schlechter, analysiert der Kinderarzt. Für Remscheid versucht er schon seit mehr als dreißig Jahren hinter das Säuglingssterblichkeitsrätsel zu kommen. „Es ist sehr kompliziert, den wissenschaftlichen Zusammenhang zwischen Sterblichkeit und Sozialstruktur herzustellen“, sagt der Arzt. „Dafür müssen Soziologen, Ärzte, Hebammen und Sozialarbeiter aufwändig einander zuarbeiten.“
Denn die soziale Lage der Eltern wird bei der Geburt eines Kindes nicht erfasst. „Sie geht ja auch eigentlich niemanden etwas an“, sagt Doris Bardehle, Sozialmedizinerin und Autorin der LÖGD-Studie. Wegen des Datenmangels interpretiert sie ihre Zahlen nur sehr vorsichtig. „Es scheint naheliegend, dass die soziale Lage eine Rolle spielt“, sagt sie. Schließlich ist die Säuglingssterblichkeit im Ballungsraum Ruhrgebiet besonders hoch und in ländlichen Räumen wie in den Kreisen Unna und Rhein-Sieg besonders niedrig. Und der Vergleich der Bundesländer legt ebenfalls einen sozialen Zusammenhang nahe: Am niedrigsten war die Säuglingssterblichkeit in Baden-Württemberg und in Bayern mit je 3,4 toten Babies pro 1.000 Lebendgeborene. Allerdings waren es auch in Sachsen kaum mehr. „Es gibt keine eindeutigen Ursachen“, betont Bardehle deshalb.
Das Landesgesundheitsministerium will die Zusammenhänge jetzt ausführlich untersuchen lassen. Denn die Statistiken deuten auch auf ein Integrationsdefizit im Land hin. In Migrantenfamilien liegt die Sterblichkeit noch einmal doppelt so hoch – wobei in dieser Kategorie nur die Familien erfasst werden, in der mindestens ein Elternteil einen nicht-deutschen Pass hat. „Wir behalten das im Auge“, sagt Kai von Schönebeck, Sprecher im Gesundheitsministerium. „Die Versorgung von Familien vor Ort liegt allerdings bei den Kommunen.“ Durch Arbeit am Problem habe NRW die Sterblichkeit aber bereits sehr stark verbessert. „Noch in 80-er sind 65 Prozent mehr Säuglinge gestorben“, sagt von Schönebeck. „Einen negativen Spitzenplatz hatten wir aber leider schon immer.“
Die Stadt Gelsenkirchen weiß allerdings nicht mehr, wie sie ihre Verantwortung erfüllen kann. „Wir legen Aufklärungsmaterial in verschiedenen Sprachen aus und thematisieren das Problem regelmäßig mit unseren Kinderärzten“, sagt Stadtsprecher Schulmann. „Alle Gefährdeten erreicht man selbst so nicht.“
MIRIAM BUNJES