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Archiv-Artikel

Alles Genozid?

STALINISMUS Norman M. Naimark deutet die sowjetischen Massenmorde mit Stalin. Analog dem Verfahren, mit Hitler den Holocaust zu erklären

Der Holocaust wurde zu einem international verbreiteten Curriculumobjekt

VON DETLEV CLAUSSEN

Im Hoover Tower, dem Wahrzeichen der Universität Stanford, liegt das im 20. Jahrhundert gesammelte Wissen des Westens über die Sowjetunion. Den Grundstock hatte der menschewistische Historiker Boris Nikolajewski gelegt, der sein umfangreiches Privatarchiv aus Russland via Paris in die USA retten konnte.

Heute lehrt in Stanford Norman M. Naimark Osteuropäische Geschichte; das Wissen, das im Hoover Tower gespeichert ist, interessiert ihn nicht. Es gelingt ihm, ein Buch namens „Stalin und der Genozid“ zu schreiben, ohne die alte Literatur zu würdigen. Als Eckpfeiler bleiben ihm nur Richard Pipes und Robert Conquest.

Man liest das Buch und wundert sich. Die beiden schrecklichsten Verbrechen des 20. Jahrhunderts, Auschwitz und der Gulag, werden zwanghaft unter den Begriff „Genozid“ subsumiert. Naimark bedient sich primitivster Mittel, um Ereignisse, die Max Horkheimer als das „zu begreifende Unbegreifliche“ bezeichnet hat, für eine breite Öffentlichkeit darzustellen. Den Genozid fasst Naimark definitorisch so weit, dass er sich von einer sinnvollen Bezeichnung für Völkermord entfernt. Diese Kategorien waren Ende der 40er Jahre wichtig in der Debatte über die zu gründende UNO und die Nürnberger Prozesse. In ihnen ging es aber nur um Deutschland und die Verbrechen der Nazis. An der Gründungscharta der UNO wie bei der Anklage in Nürnberg war die Sowjetunion entscheidend beteiligt, die zwar die Hauptlast des Anti-Hitler-Krieges zu tragen hatte, aber selbst schreckliche Verbrechen auf dem Kerbholz hatte. Doch auch die USA waren daran interessiert, dass weder die Ausrottung der amerikanischen Ureinwohner noch die Schrecken des Sklavenimports kategorial erfasst wurden. England, das gerade scheußliche Kolonialkriege führte, wollte auch nicht, dass diese Aktionen thematisiert wurden.

Um den Genozid auf die sowjetischen Massenverbrechen anwenden zu können, muss Naimark das, was auf die Naziverbrechen zugeschnitten war, bis ins nichtssagende Allgemeine erweitern, damit selbst noch das Abstraktum Holocaust unter „Genozid“ zu subsumieren ist. Wie so vielen Historikern und in ihrem Gefolge Publizisten ist Naimark gar nicht aufgefallen, dass die inzwischen gängige Vokabel „Holocaust“ den Massenmord der Nazis an den Juden aus der Geschichte herausschneidet, womit das zu Begreifende noch unbegreiflicher wird. Die Folge dieser Verdinglichung des Holocaust zu einer Medienchiffre war der Rückfall in Personalismus. Wie der Holocaust mit Hitlers Person erklärt wird, so werden die genozidalen sowjetischen Verbrechen mit dem „Völkermörder Stalin“ erklärt. Auf dem Fuße folgt wie beim Hitlerzentrismus eine irre machende Vulgärpsychologie, die als psychischen Normalzustand den eines sympathischen Fakultätskollegen postuliert. Als Kronzeugen für seine Thesen führt Naimark die neuesten Stalinbiografien von Montefiore bis Wolkogonow an, Letzterer ein sowjetischer Militärhistoriker, der selbst noch dem offiziellen Stalinmythos verhaftet ist. Verbindend bleibt das verzerrende Schema des Biografismus, das der erste große Stalinbiograf, Isaac Deutscher, souverän unterlaufen konnte, weil er die gesellschaftlichen Kräfte und geschichtlichen Kollusionen schilderte, die Stalin an die Macht brachten. Sein „Stalin“ gibt den Blick auf die gesellschaftliche Realität der Sowjetunion frei, während Naimark schreibt, um zu beweisen, dass der Genozidforscher dem Holocaustforscher überlegen ist, weil sein Horizont weiter ist.

Eine Konjunktur erlebte die Genozidforschung nach dem Systemumbruch 1989, der zu heftigen Kontroversen über die sowjetische Geschichte und zum Bürgerkrieg in Jugoslawien führte. Mit Srebrenica rückte ein Massaker, das unter den Augen der UNO begangen wurde, ins Licht der Öffentlichkeit. Der Genozidbegriff wurde zur Quelle der Legitimation bewaffneter Intervention und separatistischer Abtrennung. Für die Loslösung der Ukraine aus der ehemaligen Sowjetunion spielte die Geschichte der Kollektivierung eine entscheidende Rolle. Insgesamt fanden bei den stalinistischen Agrarkampagnen 6 bis 8 Millionen Menschen den Tod. Für diesen Schrecken wurde in den 80er Jahren das Wort „Holodmor“ (holod und mor = Hungertod) designt, nachdem das Wort „Holocaust“ nach 1978 eine atemberaubende Weltkarriere gemacht hatte. Hinter diesen Kunstwörtern verschwindet der reale Schrecken der Vergangenheit, der sich nur einer Erinnerung öffnet, die auf das Erkennen aus ist. Auch die „Große Säuberung“ zwischen 1936 und 1938 in der Sowjetunion wird von Naimark als Genozid bewertet und mit den Worten seines Kollegen Ronald Suny als „politischer Holocaust“ deklariert. Dieses Wortgeklingel mag der Förderung der Genozidforschung dienen, wie schon der Holocaust zu einem international verbreiteten Curriculumobjekt wurde. Naimark ist nicht in der Lage, das Spezifische dieser Massenverbrechen zu erkennen, die nicht aus einer „mörderischen Ideologie“ zu erklären sind, sondern aus dem Charakter der Gesellschaften sowjetischen Typs. In der UdSSR und Jugoslawien kam es zu einer Modernisierung multinationaler Reiche in barbarischer Form, die Nationalitätenpolitik und Klassenkampf mit staatlichen Mitteln kombinierte.

Das Massaker von Katyn 1940, bei dem Stalin während des Krieges 25.000 polnische Offiziere, Intellektuelle, hohe Beamte, Grundbesitzer und Priester vernichten ließ, ist von Victor Zaslavsky, der auch einst in Stanford lehrte, treffend als „Klassensäuberung“ analysiert worden. Aus seinen Schriften erfährt man mehr über die sowjetische und die jugoslawische Nationalitätenpolitik als aus diesem Band. Die Massenmordpolitik der Nazis sollte jeden Juden treffen, deren sie habhaft werden konnten; die Stalin’sche Politik sollte dagegen scheinbar rational eine beherrschbare Gesellschaft konstruieren. Die Strukturen dieser neuen Gesellschaft überlebten „Stalin und seine Schergen“, wie das Naimark’sche Stereotyp lautet, und verursachten ein schier endloses Leid im sowjetisch beherrschten Block, reproduziert durch eine gesellschaftliche Struktur-Isomorphie, die eine Unmenge von Kollaborateuren und Profiteuren der Unterdrückung erzeugte. Der Personalismus, alles auf Stalins Psychologie zurückzuführen, banalisiert das fortexistierende gesellschaftliche Übel. Der negative Personenkult, der um Stalin und Hitler von konventionellen Historikern getrieben wird, versöhnt die Schrecken der Geschichte mit den Bedürfnissen der Gegenwart.

Norman M. Naimark: „Stalin und der Genozid“. Aus dem Englischen von Kurt Baudisch. Suhrkamp Verlag, Berlin 2010, 157 Seiten, 16,90 Euro