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Archiv-Artikel

Besucher im eigenen Leben

FAUST Am Residenztheater München spart der Hausherr Martin Kušej an gar nichts: Es kracht und knallt, es fliegt ein Pferd – und sein Faust ist hungrig auf den ultimativen Kick

Diese Sache mit der Intensität konnte er noch nicht abhaken auf der Liste seiner Selbstoptimierung

VON SABINE LEUCHT

Etwas explodiert, doch was es ist, kann man nicht sehen, weil ein riesiger Feuerkegel dazu zwingt, die Augen zu schließen. Die Hitze, die er ausstrahlt, ist noch in der neunten Reihe gewaltig. Doch ist das erst der Anfang: Der Anfang eines „Faust“-Projektes, das sich das Bayerische Staatsschauspiel zum Spielzeitende gönnt, aber auch der Anfang von Martin Kušejs „Faust“-Inszenierung, in der gerade das greise Hochzeitspaar Philemon und Baucis im Feuer untergegangen ist, nachdem es seine Sätze aufgesagt hat wie ein schlecht memoriertes Gedicht.

Diese freundlichen Alten gehören bereits zu einer vergangenen Welt. Und es sind nicht die einzigen Figuren aus „der Tragödie zweiter Teil“, die der Intendant des Bayerischen Staatsschauspiels in die Handlung des „Faust I“ gemischt und im imposanten Bühnenbild versteckt hat, durch das der Protagonist streift wie durch eine Geisterstadt; hungrig auf den ultimativen Kick. Doch wie er so streift und das von Aleksandar Denic entworfene schwarze Metallgerüst sich dreht, das einen düsteren Ozeandampfer, eine Art Boxring, ein elegantes Badezimmer und die Anmutung von Westernstadt und Industrieruine miteinander vereint, spürt man schon, was sein Problem ist: Der ältliche Typ in Anzugshose und Hemd ist nicht mit dem Herzen dabei, ein Besucher im eigenen Leben.

Als einer, der zu erkennen trachtet, „was die Welt im Innersten zusammenhält“, ginge Werner Wölberns müder Heinrich nicht durch. Der Typ ist weniger wissensdurstig denn lebenssatt, kein Getriebener, sondern eher einer, der auf der To-do-Liste seiner Selbstoptimierung diese Sache mit der Intensität noch nicht abhaken konnte. Er hat schon etwa so viel geschafft wie der Welteneroberer aus „Faust II“ – aber er kann es halt nicht genießen, denn: „Vor Augen ist mein Reich unendlich. Im Rücken neckt mich der Verdruss.“

Das vermeintliche Recht auf Glück

Kušej erzählt von der grenzenlosen Gier des modernen Menschen, vom vermeintlichen Geburtsrecht der in der Ersten Welt Geborenen auf Glück und große Gefühle. Bloß dass man, wenn es anstrengend oder schmutzig zu werden droht, einen Dienstleister bucht. Als solcher fungiert hier Bibiana Beglaus Mephisto, ein dunkler Engel, der sich den Schorf vom Rücken kratzt, der an die frisch verlorenen Flügel erinnert. Dieser Mephisto ist ein androgyner, linkischer und lüsterner Geist, der es auf dem Dach aufs Brutalste mit der geifernden Marthe Schwerdtlein treibt, während unten Faust mit seinem Gretchen stumm und schüchtern Kreise zieht.

Einerseits freut man sich, endlich den zupackenden, wuchtigen und bildgewaltigen Kušej zu sehen, der in den nun fast drei Münchner Jahren dem psychologischen Feinzeichner gewichen war. Dieser „Faust“ ist große Oper, aber auch verwirrend vollgepfropft mit Motiven, Figuren und Zitaten. Es ist ein lauter, spektakulärer und ja, fast gieriger Abend, mit enormem Aufwand an Statisten und Technik produziert und noch dazu mit Explosionshitze und Schießpulvergeruch.

Zur Mitarbeit am Text wurde der Münchner Autor Albert Ostermaier eingeladen, Silja Bächli hat einen fulminanten Gastauftritt als spermasaufendes Hexen-Tier. Aus einer ganzen Reihe imponierender Bilder wie jenem, auf dem ein lebensgroßes Pferd am Kran hängend Karussell fährt, baut Kušej ein demonstrativ reiches Theater, ein postapokalyptisches Panorama.

Und wozu das alles? Die in aller Ruhe erzählte Liebes- und Untergangsgeschichte Gretchens geht einem bei Andrea Wenzels bodenständiger und reizender Unschuld schon ans Herz. Bloß hat Wölberns Faust so wenig Charisma, dass schwer nachzuvollziehen ist, weshalb die Kleine ihm verfällt. So bleibt am Ende also allein die Moral vom westlichen Egoisten, der mit seiner Maßlosigkeit die Welt in Schutt und Asche legt. Kein Gott – der „Prolog im Himmel“ ist wie vieles Andere gestrichen – kein Teufel trägt daran die Schuld.

Das ist, verglichen mit dem Aufwand, der getrieben wurde, nicht eben viel. Doch womöglich hat Kušej sich absichtlich beschieden, denn das „Faust“-Projekt an seinem Haus steht ja erst in den Startlöchern. Neben einem kleinen Regie-Festival zu „Faust I“ und Anne Lenks Inszenierung von Nis-Momme Stockmanns Sinnsuche-Stück „Phosphoros“ kommt am 27. Juni der direkte Konkurrent ans Resi: Johan Simons, Noch-Intendant der Münchner Kammerspiele, bringt Elfriede Jelineks „FaustIn and out“ nach dem wahren Fall des Josef Fritzl auf die Bühne des Cuvilliés-Theater – wofür Kušej selbst im Gegenzug in der kommenden Spielzeit auch die Kammerspiele beglückt. Zumindest als Geste ist das so selten wie schön.