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In der Pause Butterbrote und Zigaretten

■ Mit „Watch My Lips“ begann im Podewil die Tanzreihe „Körper Stimmen“

Das Titelblatt des Programms mit zwei blutigroten, weit geöffneten, sich ineinanderbohrenden Mündern läßt an alles mögliche denken – an Sadomaso, an Schweigen der Lämmer, an verzweifelt- verzehrendes Begehren. Mit einer kreuzbraven Boulevardkomödie rechnet man jedenfalls nicht.

Vor allem nicht, wenn der Autor und Regisseur Nigel Charnock heißt und Mitbegründer des legendären DV 8 Physical Theatre ist. Aber was da als Eröffnung der Tanzreihe „Körper Stimmen“ über die Bühne des Podewil geht, könnte beinahe an der Komödie am Kurfürstendamm laufen. Charnock hat eine konventionelle Beziehungskomödie in Szene gesetzt – allerdings unter veränderten Vorzeichen. In „Watch my Lips“ finden die Verwechslungsspielchen nicht zwischen verflossenen und aktuellen Ehepartnern statt, sondern zwischen den Geschlechtern.

Und während wir über Gags und Ästhetik der Komödie am Kurfürstendamm nur müde gähnen, quietschen wir vor Vergnügen, wenn „Betty-the-both-Sides“ die stock-hetera Di nicht nur in ihre Arme, sondern auch noch in ihr Bettchen zerrt. Und wenn der schwule, etwas pummelige und liebessehnsüchtige Adrian die Schnauze voll hat vom „Penis-Paradise“ und von Typen, die Kondome in leere Herzen füllen.

Charnocks Komödie ist witzig, schwungvoll und lebensklug. Nur, was hat dieses Stück bei einer Tanzreihe zu suchen? Wir wollen Kontinuität, sagen die Veranstalter von der TanzWerkstatt. Und weil sie Charnock schon des öfteren mit seinen Soloprogrammen im Podewil präsentierten, zeigen sie ihn nun eben auch, wenn er zum Sprechtheater rübergemacht hat. Ein bißchen schief ist das Konzept schon, aber solange man gut unterhalten wird, will man nicht meckern. Bleibt zu hoffen, daß „Watch My Lips“ auch tatsächlich das Publikum findet, das es verdient.

Eine Klammer zur nächsten Veranstaltung ist durchaus auszumachen. Auch bei der portugiesischen Companhia Paulo Ribeiro geht es nur um das eine. Die Konfrontation zwischen sexueller Energie und romantisch-religiöser Phantasie findet nur im sakralen Masochismus und in Selbstverstümmelung Erlösung, heißt es in der Ankündigung. Hier also könnte stattfinden, was Charnocks Titelblatt verspricht. Und getanzt wird auch, garantiert. Der Choreograph Ribeiro, der viel in Frankreich arbeitete und auch schon für das NDT choreographierte, wird für seinen klassisch-modernen Stil gerühmt. „Sabado 2“ ist das erste Stück der von Ribeiro im vergangenen Jahr gegründeten Lissaboner Compagnie.

Gänzlich unbekannt ist Marizio Saiu, der erstmals außerhalb Italiens gastiert. Der als Sänger ausgebildete Sarde, der in seinen Performances sardische Tanztraditionen mit Modern dance und eigentümlichen Gesängen verbindet, soll Töne produzieren können, bei denen man erst nach einigen Minuten bemerkt, daß sie seiner Kehle entsprungen sind.

Aber bei „Körper Stimmen“ werden nicht nur tanzende, singende und sprechende Körper geboten, sondern auch Proben. Ein Konzept, das der Idee der TanzWerkstatt entspricht, die nie nur reine Veranstaltungsreihen organisiert, sondern zum Beispiel bei „Tanz im August“ auch Workshops, Vorträge und Symposien.

Täglich bis zum 12. April sind die Proben der Tänzer Xavier Le Roy und Agathe Pfauvadel für jeden Interessierten zugänglich. „Als mir klar wurde, daß ich professioneller Tänzer werden wollte, habe ich mir vor allem gewünscht, anderen Leuten bei der Arbeit zuschauen zu können“, sagt Le Roy. „Aber das war nicht möglich, dabei ist doch der Arbeitsprozeß manchmal spannender als das Stück.“ Sehr entspannt arbeiten er und Agathe und unterhalten sich in ihren Pausen, während sie Butterbrote essen und Zigaretten rauchen mit den Zuschauern. Eine solche Arbeitsform war Erik Kouwenhoven, dessen neues Stück von der TanzWerkstatt koproduziert und beim „Tanz im August“ gezeigt wird, zuviel. Aber immerhin wird es ein „Work-in-progress-Showing“ geben.

Zum Schluß schließlich kommen Iztok Kovac & En-Knap. Und da sie schon der Höhepunkt des Londoner Spring Collection Festivals 1996 waren, sollte das auch in Berlin nicht anders sein. Michaela Schlagenwerth

„Watch My Lips“. noch heute und morgen, 20 Uhr, Podewil, Klosterstraße 68, Mitte

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