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Die sturen Illegalen aus Hirschhagen

Erst Nazi-Munitionsfabrik, dann Siedleridyll und schließlich größte Rüstungsaltlast westlich der Elbe. In Hessisch Lichtenau bei Kassel wollen die Bewohner sich nicht weder vom Gift noch von Behörden vertreiben lassen  ■ Aus Hirschhagen Detlef Stoller

Karin Nölcker ist entsetzt: „Man bezeichnet uns als Illegale und will uns hier vertreiben.“ Man – das ist die Stadtverwaltung der hessischen Kleinstadt Hessisch Lichtenau. Karin Nölcker bewohnt ein Haus im Hessisch Lichtenauer Stadtteil Hirschhagen.

Aus Sicht der Stadtverwaltung ist Hirschhagen allerdings kein Wohngebiet, sondern ein Industriegebiet. Schon ein Schild unten an der B7 weise ins „Industriegebiet Hirschhagen“, argumentiert die Stadt. Deshalb wohne Frau Nölcker, genauso wie die 331 anderen angemeldeten Bewohner, dort illegal. Ein von der Stadt in Auftrag gegebenes Gutachten formuliert spitz: „Es dürfte deshalb keinem Bewohner von Hirschhagen verborgen geblieben sein, daß er in einem Gewerbe- und Industriegebiet wohnt.“

Eigentlich egal und allenfalls kurios – doch Hintergrund für dieses Possenstück aus der hessischen Provinz sind harte wirtschaftliche Fakten: denn es geht um die Sanierung einer der größten Rüstungsaltlasten Deutschlands – es geht damit um sehr viel Geld.

Auf dem Gelände stehen 400 Gebäude für den Krieg

Die Geschichte Hirschhagens begann vor 60 Jahren. 1936 baute die Verwertungsgesellschaft Montan Industrie – kurz Montan – im Führerauftrag eine Sprengstoffabrik in den abgelegenen hessischen Mischwald. Hier gab es Arbeitskräfte, Braunkohle für die Energie und genügend Wasser. Auf 230 Hektar erstreckte sich die kriegswichtige Anlage – die 400 bunkerartigen Bauten tarnten die Nazis mit Gräsern, Büschen und Bäumen, die sie auf die Flachbetondächer pflanzten.

Von 1938 bis 1945 ließen die Nationalsozialisten dort 135.000 Tonnen des explosiven Sprengstoffs TNT (Tri-Nitrotoluol) von zumeist Zwangsverpflichteten herstellen und in Bomben, Minen und Granaten abfüllen. Dabei ging es extrem gefährlich zu. So wurden in den Monaten von April 1943 bis März 1944 bei drei Explosionen an den Füllstationen 149 Arbeiterinnen und Arbeiter regelrecht zerfetzt. Nach der Explosion am 31.3. 1944 soll von den 71 Toten einzig ein Ringfinger gefunden worden sein. Ab September 1944 betrieb der Rüstungskomplex auch eine Außenstelle des Konzentrationslagers Buchenwald.

Im April 1945 marschierten die Amerikaner in Hessisch Lichtenau ein und beendeten das menschliche Drama. Neun Monate später begannen sie mit der Zerstörung der Fabrik. Jedoch demontierten oder sprengten die Amerikaner letztlich nur knapp 150 der 400 Bauwerke, die übrigen Bauten fanden eine neue, eine ungewöhnliche Bestimmung.

Ein ungewöhnliches Gewerbegebiet entsteht

Denn schon 1946 begannen Flüchtlinge, die Verwaltungs- und Produktionsgebäude der Fabrik für gewerbliche Tätigkeiten neu zu nutzen – Hirschhagen begann zu wachsen. Gleichzeitig begannen sie sich häuslich einzurichten in den Bunkern der Rüstungsfabrik. Auch private Wohnungssuchende zogen nach Hirschhagen. „So entstand die bis heute hier anzutreffende Mischung von Gewerbe und Wohnen in direkter Nachbarschaft“, erzählt Karin Nölcker, die von den Bewohnern Hirschhagens als Sprecherin gewählt wurde. Niemand bestreitet heute ernsthaft, daß damals bei der Wiedernutzung der ehemaligen Rüstungsschmiede die Genehmigungspraxis recht lax war. Das simple Prinzip: Die Wohnungssuchenden besorgten sich einen Gewerbeschein und ließen sich eine ans Gewerbe angeschlossene Wohnung gleich mitgenehmigen. Das Gewerbe ruhte allerdings recht schnell oder wurde erst gar nicht ausgeübt.

Hirschhagen hat zwei Gesichter

Bis heute erinnern die bizarren Gebäude zum Großteil nicht an heimelige Wohnhäuser. Im Krieg sollten die bepflanzten gezackten Betondächer verhindern, daß feindliche Luftaufklärer die Fabrik im Wald erkennen konnten. Heute sprengt die ungewöhnliche Architektur derart kraß die üblichen Sehgewohnheiten, daß Hirschhagen eine unheimliche, eine beklemmende Aura hat. Wer das erste Mal am Schild „Industriegebiet Hirschhagen“ die B7 verläßt, der kleinen gewundenen Straße durch den dichten Wald folgt und plötzlich das ehemalige Wachhaus vor sich sieht, glaubt die Zeit um 50 Jahre rückwärts durchquert zu haben: Genauso muß dieses Wachhaus auch damals schon ausgesehen haben, allerdings mit hakenkreuztragenden Soldaten davor.

In Hirschhagen prallen die Gegensätze aufeinander. Die dunklen Fensterhöhlen der vielen leerstehenden, zerfallenen und mächtigen Bauten wirken abstoßend, konterkarieren beinahe zynisch das sanfte Gartenidyll mit Zwerg, Teich und blühender Blütenpracht in direkter Nachbarschaft. Der immer noch üppig wuchernde Tarnbewuchs auf den wuchtigen Flachdächern verleiht den Wohnhäusern den behäbigen Charme von Beharrlichkeit. Das Arrangement mit den Gegebenheiten des Ortes lugt aus unzähligen Ruinen gesprengter Bunker, die scheinbar wahllos im Wald verstreut sind. Die besondere Geschichte Hirschhagens hat zwei Gesichter: die häßliche Fratze des Todes und das harte Gesicht des Überlebenswillens. „Die Bewohner von Hirschhagen“, sagt Karin Nölcker, „das sind die Leute, die gleich nach dem Krieg Hacke und Schippe in die Hand genommen haben und aus diesem verwüsteten Gebiet etwas geschaffen haben.“ Es ist klar: Damals fragte niemand ernsthaft nach gesetzlichen Grundlagen.

Doch Recht und Gesetz waren nicht nur in den Nachkriegswirren Nebensache: Erst im Jahre 1981 bekam Hirschhagen Straßennamen und Hausnummern. Bis dahin dienten die früheren Bunkernummern zur Orientierung.

Gift im Grundwasser fand man schon vor 30 Jahren

Das chaotische Treiben ging ohne rechtskräftigen Bebauungsplan bis vor etwa zehn Jahren munter so weiter. Da stand erstmals die Frage möglicher Bodenverunreinigungen im Raum. „Das erste Mal richtig ernst genommen hat die Stadt das Altlastenproblem in Hirschhagen, als 1985 zwei Wissenschaftler ein Buch darüber veröffentlicht haben“, erinnert sich Wolf von Bültzingslöwen, seit 12 Jahren in der Bürgerinitiative für sauberes Trinkwasser aktiv.

Dabei gab es bereits in den sechziger Jahren Hinweise auf Kontaminationen. So starb in Hirschhagen 1963 ein Hund an Vergiftung, der in ein Betonbecken mit einer übelriechenden Flüssigkeit gefallen war. 1967 wies das chemische Institut der Universität Marburg erstmals Nitroaromate im Trinkwasser des Brunnens Hirschhagen III nach. 1973 mußte die Stadt diesen Brunnen dichtmachen. Bis 1991 mußte die Stadt neun weitere Trinkwasserbrunnen stillegen, 18 Millionen Mark kostete das Land die Erschließung neuer Quellen und Brunnen. Bis in 200 Meter Tiefe ist das Grundwasser inzwischen mit Nitroaromaten kontaminiert.

1992 hat die vom Land gegründete Hessische Industriemüll GmbH – Bereich Altlastensanierung (HIM-ASG) – die Sanierung der Rüstungsaltlast übertragen bekommen. Seitdem ist die HIM- ASG bemüht, sich mit den Bewohnern und Gewerbetreibenden über die Sanierungsziele zu einigen. Nach jahrelangen Verhandlungen stand letztes Jahr das Ergebnis fest. Ab 20 Milligramm TNT-Belastung pro Kilogramm Boden sollte in Hausgärten der Boden ausgebaggert und gereinigt werden, bei gewerblich genutzten Grundstücken erst ab 40 Milligramm TNT, im Wald ab 80 Milligramm.

Die HIM-ASG begibt sich auf eine gewagte Reise: Denn noch nie ist in Deutschland eine bewohnte Rüstungsaltlast saniert worden. Insgesamt wird die Sanierung Hirschhagens den Steuerzahler mehr als 100 Millionen Mark kosten. Vor einem halben Jahr begann eine modellhafte Sanierung eines besonders stark belasteten Grundstücks. „Die Erfahrungen aus diesem Projekt fließen in das Gesamtvorhaben ein und werden die Sanierung beschleunigen, die im Jahre 2005 abgeschlossen sein soll“, erläutert Projektleiter Michael Wolf von der HIM-ASG. „Aber darauf festlegen möchte ich mich nicht, daß wir im Jahr 2005 hier mit der endgültigen Sanierung fertig sind.“

Das Sanierungsziel ist wieder fraglich

Mit der jetzt geplanten Ausweisung Hirschhagens im Bebauungsplan als Industriegebiet kippt das unter viel Schweiß und Tränen zwischen der HIM-ASG und den Bewohnern ausgehandelte Sanierungsziel. Das städtische Gutachten stellt bereits klar: „Die Altlastensanierung im Hinblick auf ein Industriegebiet ist erheblich kostengünstiger und einfacher durchzuführen als z.B. im Hinblick auf ein Wohngebiet.“

„Man kann doch nicht einfach 50 Jahre alte Tatsachen wegleugnen“, schimpft Karin Nölcker und droht mit gerichtlichen Schritten, wenn die Gemeinde nicht einlenkt. BI-Veteran Wolf von Bültzingslöwen fordert, „daß für Hirschhagen ein qualifizierter Bebauungsplan aufgestellt wird, der die tatsächliche Nutzung und die Belange des Naturschutzes berücksichtigt“.

Die Bürgerinitiative und die Bewohner müssen jedoch nicht nur gegen die Stadtverwaltung kämpfen. Denn auch das hessische Wirtschaftsministerium zieht neuerdings im Hintergrund Fäden für die Gemeinde: „Für Hirschhagen wird insbesondere die Chance zur Ansiedlung von emittierenden Betrieben (Lärm, Geruch) herausgestellt, da der Standort abseits von Siedlungen im Wald liegt.“ So steht es geschrieben – in der bisher unveröffentlichten „Perspektivstudie Hirschhagen“, beauftragt vom Wirtschaftsministerium.

Für die Wirtschaft existieren in Hirschhagen schon keine Wohnungen mehr – egal, ob legal oder illegal.

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