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Hurra, Deutschland!

Es gibt Zeiten, da haben die Mächtigen es nötig, ihren Nimbus begrabbeln zu lassen. Da tätscheln sie Kindern den Kopf oder schwimmen durch den Rhein. Derart symbolische Gesten werden vor allem dann bevorzugt, wenn nennenswerte Wählermassen die Loyalität zur Politik aufzukündigen drohen. Und die anstehenden Sparbeschlüsse der Regierung scheinen nach Einschätzung der Bonner Strategen eine solche Geste notwendig zu machen.

Wie sonst wäre es zu erklären, daß Helmut Kohl sich gerade jetzt in die Niederungen einer Talkshow begibt – und das ausgerechnet beim ihm verhaßten WDR. Bioleks sonst so gepriesenes Taktgefühl – die Strategen werden es geahnt haben – grenzte diesmal denn auch an Speichelleckerei. Was macht der Dolmetscher, wenn Kohl mit Jelzin in der Sauna sitzt? Läßt er auch die Hosen runter? Hat der Kanzler neben politischen auch private Freunde? Ist er nachtragend, kann er verzeihen? Und wie bereitet er den Karamelpudding? „Kann sein, mit 18 Eiern.“

Oh, da staunt der Wähler. ER, der Kanzler, bald länger als Adenauer, gar als Bismarck im Amt, hat Schwächen. ER war „als Bub ein leidenschaftlicher Kaninchenzüchter“ und an der Uni „ziemlich vergammelt“. ER ist mit Jelzin über die Wolga geschippert und hat mit Gorbatschow am Rhein gegessen. Und wohlgemerkt: Wenn der Kanzler vom „Vater Rhein“ spricht, „da schwingt viel mehr mit als einfach fließendes Wasser“. Hurra, Deutschland!

Am Ende kredenzt Bio dem Regierungschef einen Pfälzer Riesling und stößt immer wieder so heftig mit IHM an, daß man befürchten muß, es könnte Scherben geben. Doch auf Bios Boulevard geht nichts zu Bruch. Die Tabus, die er bricht, sind keine; die Fragen, die er stellt, nur Stichworte. Da kann der Kanzler die „eiserne Disziplin“ loben, die ER einst erlernt hat, und sich über die „scheußliche Miesepeterei“ von 35 Millionen Deutschen mokieren, die dieses Jahr in den Urlaub geflogen sind, um dem angeblichen „Jammertal zu entkommen“.

Bio läßt IHN gewähren. Skandalös wäre so etwas nur, wenn die Showmaster Gottschalk oder Harald Schmidt hießen. Bio darf am Ende enthusiasmiert ausrufen: „Ich möchte das Glas erheben auf Europa und die Erreichung Ihrer großen Ziele!“ Da stimmt was nicht. Achim Baum, Chefredakteur „Agenda“, Adolf Grimme Institut

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