: Absurde Rechtslage
■ CDU verhindert überfällige Reform des Wahlrechts
Alle Wähler sollen mit ihrer Stimme den gleichen Einfluß auf das Wahlergebnis haben. Dieses Gleichheitsgebot, vom Bundesverfassungsgericht festgeschrieben, ist einer der Kernsätze eines demokratischen Systems, an denen sich nicht rütteln läßt.
Es läßt sich offenbar doch daran rütteln. Bei den letzten Bundestagswahlen brauchten die Grünen fast 4.000 Stimmen mehr als die CDU, um ein Mandat zu erzielen. Denn nach geltendem Recht darf eine Partei, die in einem Bundesland mehr Direktmandate erringt, als ihr nach Prozenten zustehen, diese „Überhangmandate“ behalten.
Es ist danach möglich, daß zwei zur Koalition entschlossene Parteien die Mehrheit der Wähler hinter sich haben, zwei andere Koalitionspartner aber dank Überhangmandaten die Mehrheit im Bundestag erringen und die Regierung bilden können. Eine krassere Verfälschung des Wählerwillens ist schwer vorstellbar. Die Parteien selbst werden an dieser absurden Rechtslage nichts ändern. Es kann nicht überraschen, daß die CDU mit ihren zwölf Überhangmandaten keine Gesetzesänderung wünscht. Die FDP wurde vom Koalitionspartner strikt auf Linie gebracht und lebt außerdem mit einer soliden Kanzlermehrheit auch komfortabler als mit einer knappen.
Die Sozialdemokraten haben sich zwar jetzt dem Kampf der Grünen für eine Reform angeschlossen, aber sie mußten erst mühsam zum Jagen getragen werden. Schließlich ziehen auch sie Nutzen aus den gegenwärtigen Verhältnissen – wenn schon nicht politisch, so doch wenigstens bei der Versorgung verdienter Genossen. Immerhin vier Überhangmandate sind ihnen 1994 zugefallen. Außerdem hoffen sie noch immer, daß die Grünen ihren Wählern doch eines Tages Stimmensplitting empfehlen und damit für neue SPD- Überhangmandate sorgen. Bei FDP und CDU ist dies ja längst Praxis. Nur die Grünen, die keine Chance auf Direktmandate haben, müssen bei der Frage keine parteiinternen taktischen Rücksichten nehmen.
Die Wahlrechtsreform berührt unmittelbare, vitale Eigeninteressen der Parteien. Da bleiben der Wille zur Gerechtigkeit und die politische Vernunft auf der Strecke. Es ist Sache des Bundesverfassungsgerichts, diese Schieflage zu korrigieren. Bettina Gaus
Bericht: Seite 4
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