: Vom riesigen Island-Gletscher Vatnajökull schmelzen pro Sekunde 5.000 Kubikmeter Eis ab. Wenn die Wassermassen das Gletschereis „hochheben“, wird die Flutwelle freigesetzt. Und die Wassermassen werden Richtung Meer stürzen. Aus Stockholm Reinhard Wolff
Feuer im Eis
Nicht weniger als ein Zehntel der Fläche Islands bedeckt der Vatnajökull. Mit 8.300 Quadratkilometern ist er der größte Gletscher Europas, nach der Antarktis und Grönland die drittgrößte Eismasse der Erde. Alle Alpengletscher zusammen sind gerademal halb so groß. Unter einer bis zu 750 Meter dicken Eisschicht schlummert ein Vulkan. Eigentlich sind es sogar fünf Einzelvulkane, die sich unter der Eismasse verbergen und immer wieder ausbrechen. Zuletzt 1938, als die Vulkanhitze des Grimsvötn so viel Gletschereis schmelzen ließ, bis die Eiswände platzten und sich eine gewaltige Flutwelle ins 80 Kilometer entfernte Meer ergoß. Ohne Schaden in der unbewohnten Gegend anzurichten.
Diesmal heißt der Übeltäter Bardarbunga. Vergangene Woche ist er nach einem Erdbeben ausgebrochen. Seitdem herrscht Alarmstimmung, sorgt das lodernde Feuer im Eis für Schlagzeilen.
Bricht einer der im Gletschereis eingebetteten Vulkane aus, werden gewaltige Eismassen geschmolzen. Früher oder später breitet sich das Wasser aus und versucht sich einen Weg aus dem Gletscher heraus zu bahnen. Experten schätzen, daß es im Falle des Bardarbunga rund 5.000 Kubikmeter Eis sind, die schmelzen. Pro Sekunde. Ein stetig wachsender Gletschersee bildet sich, das Wasser hebt die urzeitlichen Eismassen langsam nach oben und wühlt sich einen Weg nach unten Richtung Meer. Rund 50 Kilometer liegen zwischen Vulkan und Gletscherrand. Und weitere 30 Kilometer zum Meer. Wie groß der Gletschersee ist, wie weit sich die unterirdische Flut bereits gegraben hat und wann die Gletscherwände dem Druck nicht mehr standhalten – das war die große Frage, die den Vulkanologinnen und Geologen auf Island in den letzten Tagen Kopfschmerzen bereitete.
„Es ist wie bei einer Geburt“, beschreibt es der Geologe Einar Haflidsson: „Man weiß, daß es kommt, kann aber nicht genau sagen, wann. Und einen Kaiserschnitt kann man nicht machen.“ Eingeleitet wurde die „Geburt“ am 29. September, als sich nach einer Erdbebenserie bis zur Stärke 5,5 auf der Richter-Skala eine Erdspalte öffnete, aus der Wasserdampf und heiße Vulkanasche in die Atmosphäre stiegen: Die Eruption sprengte dem Vatnajökull ein riesiges Loch in die Gletschermasse. Einen viel kleineren Vulkanausbruch hatte es zuletzt 1983 gegeben.
Ganz Island ist eigentlich ein einziger Vulkanausbruch, wie schon der Blick auf die Konturen der Insel zeigt. Wie eine Landpfütze liegt es da und zerfasert sich an den Enden in den Nordatlantik. Island liegt auf dem „mittelatlantischen Rücken“, von dem aus sich die europäische und die amerikanische Kontinentalscholle voneinander wegschieben. Und dabei Magma freisetzen. Dieses Magma hat Island im Laufe von Millionen von Jahren aus dem Meer auftauchen lassen. Die „Geburt“ dürfte so ähnlich gewesen sein, wie erschrockene Fischer es am 14. November 1963 erlebten, als 33 Kilometer vor der Südküste Islands plötzlich das Meer brodelte, kochte und zischte und plötzlich eine pechschwarze Lavainsel vor ihnen lag. Als die Dampfwolken sich verzogen hatten, wurde die mittlerweile drei Quadratkilometer große und 175 Meter hohe Insel Surtsey sichtbar. Magma ist überall, ständig verändert es die Insel. Die heißen Quellen schenken den Isländern das Privileg, zu jeder Jahreszeit gratis im Freien zu baden. Richtig katastrophale Vulkanausbrüche liegen schon mehr als 200 Jahre zurück. 1783 soll sich der größte Lavaausbruch auf der Erde ereignet haben. Eine gewaltige Eruption des Vulkans Laki war für eine Mißernte in ganz Europa verantwortlich.
Die Felslandschaft südwestlich des Gletschers Vatnajökull riß damals auf einer Länge von 12 Kilometer auf, spuckte Lava und Asche in den Himmel und verschluckte die Sonne. Dann kippte der Vulkan den Isländern schweflige Säure vor die Füße und setzte 20 Millionen Tonnen Kohlendioxid frei. Noch 1.000 Kilometer weiter südlich rätselten Redakteure der Edinburgh Evening Post über die Herkunft eines gespenstischen Nebels herum, der Schottland einhüllte und den Menschen in den Augen brannte. Der Ausbruch halbierte den Rinderbestand Islands. 22 Prozent der Isländer hatten genug und kehrten der Heimat den Rücken.
Das ist lange her. Aktuell gibt es eher beruhigende Nachrichten. Die seismische Aktivität soll sich ein wenig beruhigt haben. Beruhigend wirkt auch die Berechenbarkeit des Geschehens. Die isländische Lava hat den Vorteil, basisch und leichtflüssig zu sein. Meist öffnen sich die Vulkane in gemäßigten Ausbrüchen mit einem gut vorhersehbaren Schadensverlauf. Auch der Lauf der Flutwelle scheint relatiu gut abschätzbar.
Das Gegenstück zu den isländischen Vulkanen sind Ausbrüche wie der des Mount St. Helen 1980 im US-Bundesstaat Washington, der regelrecht explodierte und dabei dickflüssige und siliziumreiche Lava ausstieß. Doch auch „ruhige“ Vulkane, die „nur“ Flutwellen verursachen, können schwere Katastrophen anrichten. Ein Vulkanausbruch mit anschließender Schlammwelle tötete vor elf Jahren in Kolumbien 23.000 Menschen.
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