: Politbüro im Erfrischungsraum
Den gegen sie verhängten Haftbefehl nehmen die vier ehemaligen Politbüromitglieder fast regungslos zur Kenntnis. Nur Egon Krenz wehrt sich – und spielt ansonsten den Staatsmann a.D. ■ Aus Berlin Severin Weiland
Die einstigen Genossen haben sich nicht mehr viel zu sagen. Vor allem nicht Günter Schabowski, der mit der legendären Pressekonferenz am Abend des 9. November 1989 die Reisefreiheit für die DDR-Bürger verkündete und damit den Fall der Mauer einleitete. Beim Gang in die Mittagspause trennen sich die Wege der vier Angeklagten. Einst saßen sie im SED- Politbüro zusammen, seit über einem Jahr sehen sie sich notgedrungen fast wöchentlich vor dem Berliner Landgericht wieder, wo sie sich wegen der Toten an der Mauer zu verantworten haben.
Während Egon Krenz, Horst Dohlus und Günther Kleiber in den „Erfrischungsraum“ im Erdgeschoß abtauchen, drängt es Schabowski an diesem Mittwoch Mittag ins Freie. Fast scheint es, als flüchte der 67jährige an den aufleuchtenden Scheinwerfern der Kameramänner und Journalisten vorbei, die am 64. Verhandlungstag eine Sensation erwartet haben. Denn zwei Tage zuvor hat das Bundesverfassungsgericht seinen Beschluß über die Mauerschützen veröffentlicht. Und tatsächlich verkündet die 27. Große Strafkammer am Morgen unter Ausschluß der Öffentlichkeit vier Haftbefehle, setzt sie zugleich aber unter Auflagen wieder aus. Drei der Angeklagten dürfen Berlin und Brandenburg nicht verlassen, bis auf Schabowski, der in Hessen bei einem Anzeigenblatt arbeitet.
Kurz nachdem das Gericht seinen Beschluß gefaßt hat, kommt Egon Krenz heraus. Der letzte Staatsratsvorsitzende der DDR und SED-Generalsekretär weiß, welche Rolle ihm zugedacht ist: die des Staatsmannes a.D. Der 59jährige spielt sie, weil sie kein anderer spielen könnte: Kleiber wirkt intellektuell überfordert, Dohlus ist mit 71 ein alter Mann, und Schabowski hat schon zu Beginn des Prozesses seine moralische Schuld eingestanden und sich damit von seinen Mitangeklagten und sie sich von ihm distanziert.
Krenz spricht von einer „fast pogromartigen Hetze“ nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes. Zweierlei Recht sei geschaffen worden. Er wiederholt, was sein Anwalt Robert Unger sagt: Das strikte Rückwirkungsverbot gelte nach dem Spruch aus Karlsruhe für Westdeutsche, für Ostdeutsche hingegen nur eingeschränkt.
Krenz wirkt wie immer angestrengt, auch dann, wenn er auf dem Flur scherzt. „Ich setze mich ab“, sagt er zum Vertreter der Nebenkläger, Hanns-Ekkehard Plöger. Der hemdsärmelige und durch die Berliner Boulevardpresse stadtbekannte Rechtsanwalt, der bereits in früheren Mauerschützenprozessen die Angehörigen von Opfern vertrat, lacht. Im Gespräch mit Journalisten gibt er sich anschließend fast versöhnlich. Der Krenz zeige immerhin Haltung, auch wenn er, ähnlich einem Sektenführer, kein Unrechtsbewußtsein habe. Schabowski hingegen nennt Plöger einen „Jammerlappen“, der sitze ja schon so zusammengesunken im Gerichtssaal.
Dort geht es an diesem Donnerstag vormittag mit einer fast schon einschläfernden Routine zu. Wie immer sitzen auf den Zuschauerbänken überwiegend ältere Frauen und Herren, einstige Genossen. Der Vorsitzende Richter Josef Hoch ist ein ruhiger, besonnener Mann. Unruhe ensteht im Saal, als Oberstaatsanwalt Bernhard Jahntz und die Nebenklage gegen die Haftverschonung Beschwerde einlegen. Als Jahntz davon spricht, daß die Angeklagten sich wegen der zu erwartenden empfindlichen und hohen Strafen dem Verfahren durch Flucht entziehen könnten, wippt Krenz nervös mit den Füßen und schüttelt mit dem Kopf. Schabowski sitzt, als wolle er am liebsten unter den Tisch rutschen, Kleiber und Dohlus wirken, als ginge sie das Ganze ohnehin nichts an.
Wieder ist es Krenz, der das Wort führt. Auch wenn er die Zuständigkeit des Gerichts, über die DDR zu urteilen, nicht aktzeptiere, so bleibe es doch dabei: Zu keiner Minute habe er vor, Deutschland zu verlassen. Einer seiner beiden Anwälte sagt schließlich: „Fluchtwille und Krenz, das schließt sich aus.“ Am Ende hat das Landgericht an diesem Donnerstag ein Einsehen. Die Beschwerde der Staatsanwaltschaft wird abgewiesen.
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