Geschichten und Eigensinn

Alexander Kluge wird heute 65 Jahre alt. Vermischte Lobpreisungen

R. kaufte sich gestern eine Videokamera, ein teures Stück, nach langem, langjährigem Zögern. Gewöhnlich pflegte er sie nur auszuleihen für gewisse Fernseharbeiten: um sich selbst zu verdeutlichen, daß die Videokamera, anders als Füller (und Fotoapparat), eben nur zeitweise seine Arbeit erfordert (... es finden sich in R. auch noch andere weitschweifige Erklärungen). Daß R., grundsätzlich ein Mann des Füllers und der Schreibmaschine, überhaupt nach Fotoapparat und Videokamera griff in seinem Arbeitsleben, hat aber mit Kluge zu tun. Denn der führte in seinem Arbeitsleben vor, daß der Schriftsteller mehr Apparate sollte bedienen können als den des Schreibens – er hat es so erfolgreich vorgeführt, daß man ihn „Schriftsteller“ zu nennen zögert. Oder anders, er hat die Rolle des „Schriftstellers“ um ein paar Kompetenzen, Erfindungen erweitert; seitdem muß sich jeder Schriftsteller fragen, ob nicht auch solche Erfindungen zu seiner Arbeit gehören...

Literatur- und Medientheoretiker werden zeigen, wie Kluges Erfindungen beispielsweise Sergej Tretjakows vergessenes Konzept des „operativen Schriftstellers“ vergegenwärtigten (den Walter Benjamin in „Der Autor als Produzent“ – ein für R. und seinesgleichen lange Jahre heiliger Text – doppelt kanonisiert hat). Wobei Kluge den Theoretikern die Arbeit furchtbar erschwert, insofern er zwischen „Theorie“ und „Literatur“ so wenig eine Grenze anerkannte wie zwischen den Feldern von Füller und Kamera. Wäre also die Videokamera, das teure Stück, das R. gestern erwarb, ein Schiff, eine Dame müßte eine Champagnerflasche daran zerschmettern, um es auf den Namen „Alexander Kluge“ zu taufen. Wobei Alexander Kluge zugleich auch die Möglichkeit erfunden hat, die Geschichte so zu erzählen. Michael Rutschky

Als Fürstenerzieher kommt er nicht in Frage. Zu vergrübelt. Sein Beitrag zum großen Filmgemälde „Deutschland im Herbst“ bestand darin, zwei Beerdigungen zu vergleichen und aus diesem Vergleich nicht ein Lamento, sondern eine ganze Anthropologie zu gewinnen: das Staatsbegräbnis des ermordeten Hanns Martin Schleyer in Stuttgart und die mühsam gegen den Willen der Bevölkerung durchgesetzte kirchliche Beerdigung von Gudrun Ensslin, durchgesetzt von niemand anderem als dem Oberbürgermeister Manfred Rommel, Sohn des Kriegshelden. Rommel wird in Kluges Sicht zum Kreon, der nicht verhindern kann, daß Antigone ihren Bruder begräbt.

Überhaupt, graben: Kluge hält Ernst, Vernunft und „diese düstere Sache, welche Nachdenken heißt“ für Vorrechte und Prunkstücke, die sich teuer bezahlt gemacht haben. Auf dem Grund all dieser guten Dinge sieht er Blut und Grausen. Nach ihnen gräbt „Die Patriotin“ in seinem Film aus dem Jahr 1979. Wer erwartet hatte, sie würde dabei auf Relikte des Holocaust treffen, war im Irrtum: Die eigentlich traumatische Erfahrung war die Vertreibung, die Bombardierung der Städte, die zerschlagenen Armeen. Das Leitmotiv für diese Erfahrungen, das sich auch durch die Gespräche zieht, die er heute im Fernsehen führt, ist „Stalingrad“.

Die Toten kritisieren die Lebenden: Kluges Geschichtskonzept hat durchaus etwas von der gothic novel, etwas Romantisches, etwas von eingemauerten Katzen im Keller – wenn beispielsweise das ausgegrabene Knie eines Wehrmachtsoldaten der Patriotin Gabi Teichert widersprechen darf. Zwar fühlt er sich der „Dialektik der Aufklärung“ verbunden, kann sich zu ihrer Geschichtsphilosophie aber doch nicht durchringen; da ist bei ihm, glücklicherweise, das Materielle davor, vor allem die „Politik der Körper“. In „Geschichte und Eigensinn“ finden sich Konstruktionszeichnungen einer Walzstraße, Gewichtsvergleiche zwischen einzelnen Organen bei Männern und Frauen (Frauen bestehen zu 62 Prozent aus Wasser), Fotos von Kriegsheimkehrern, die fremd und glücklich ihre Frauen in die Arme schließen, oder eine Tabelle zum Thema Hexerei, die Verhalten und Bestrafung („Unhöflichkeit“ wird mit „Anstarren“ vergolten) in ein exponentielles Verhältnis setzt. Niemand wird bestreiten, daß an all diesen Nestern der Geschichte Erfahrung klebt und daß Leute in ihnen glücklich zu werden versuchen. Kluge trägt Sorge, daß sie nicht alle ihr Nest für das Zentrum halten. Mariam Niroumand

Vor mehr als zehn Jahren kannte ich noch massenweise Leute, die Kluge lasen, und las auch gelegentlich selber Kluge oder ließ was einfließen. Heute weiß ich außer Klaus Theweleit eigentlich keinen bekennenden Kluge-Leser mehr zu nennen. Irgendwie sind sie alle verschwunden, dahingerafft vom vorletzten Paradigmenwechsel, ohne daß dem allerdings größere Abrechnungen vorausgegangen wären, und nur abends, beim Zappen, kann es passieren, daß Kluge plötzlich wieder präsent ist: als Stimme.

Seine Art des Fernsehmachens kann ich offen gestanden schwer ertragen, es wirkt auf mich wie zu schnell gespielte Opern oder die Art von Avantgarde, die ich wenigstens im Fernsehen nicht haben will, so daß ich schnell weiterswitche zu MTV oder „Marienhof“ – aber dieser Sound ... eine enorme Verbindlichkeit geht von ihm aus, die Erinnerung der Erinnerung an eine Vorstellung von Intellektualität, die trotz Präsenz in den „Medien“ nicht Pop ist, nicht hysterisch oder von anstürmenden Mächten bedrängt, sondern ausgeglichen, fundiert und persuasiv. Man glaubt dieser Schmeichelstimme ihre Geschichten von Grabungen und Knien, weil sie etwas Vertraueneinflößendes hat – Kluge, der intellektuelle Märchenonkel.

Allerdings kann er auch anders. Nur merkt man es nicht gleich. Einmal wurde ich beim Zappen des Literaturwissenschaftlers Josef Vogl ansichtig, der vor nicht allzulanger Zeit im Rahmen einer Blattkritik live den Kulturteil der taz mit schärfstem ideologiekritischem Besteck auseinandergenommen hatte, ein beeindruckendes Schauspiel. Im TV hatte Kluge ihn in der Mangel, das heißt, er sprach leise und verschwörerisch auf ihn ein, was den Literaturwissenschaftler Vogl sichtlich nervös machte, dabei – um was ging es eigentlich? Offenbar ein sehr komplexer Groove, ein synkopiertes Etwas, das von Kluge stichwortgegebend gesteuert wurde. „Marx“, sagte Kluge. „Marx, ja aber ...“, sagte Vogl. „Genau, Musil“, sagte Kluge. „Ich würde sogar noch weitergehen und sagen, daß ...“, konterte Vogl. So ging das hin, bis einer von beiden nicht mehr konnte. Kluge war's nicht.

In jeder Hinsicht Paroli bieten konnte Kluge bekanntlich Heiner Müller. Mit ihm im Duett entstand erst jener permanente Flow der Daten und Stichworte, der Kluge auf der Höhe seines Könnens zeigte, mehr gestützt als skandiert von Müllers fast geflüstertem „ja, hm, ja, hm, ja, ja, ja ...“ Karthago, Puccini, Rom, Stalingrad – die beiden verstanden sich blind, Großmeister der verknappten Pointe, Time Bandits, ein bißchen auch Herrenrapper. Man durfte sich an jenen Witz von den Witzeerzählern erinnert fühlen, die ihre Witze numeriert hatten und nur noch über das Nennen der Zahl kommunizierten. Sicher, gelacht hat keiner, aber gelächelt schon, manchmal, so als hätten Kluge und Müller sich durch wechselseitige stimmhypnotische Versuche in die totale Verständigung emporgeschwungen.

Beim Blättern im Barthes, den ich auch schon lange nicht mehr zur Hand genommen habe, fand ich auf die Frage, was diesen hochfragilen Intellelo-Sound letztlich so beinhart konserviert hat, daß er nach Jahrzehnten noch zu einem spricht: „Die Fiktion ist der Härtegrad, den eine Sprache erreicht, wenn sie ausnahmsweise Wurzeln geschlagen hat und eine Priesterklasse (Priester, Intellektuelle, Künstler) findet, die sie geläufig spricht und verbreitet.“ So mag das sein: Die Priester sind weg vom Fenster, ihre Bücher auch, aber dann und wann klingt noch ihr Echo aus dem Fernseher. Thomas Groß

Der Erfolg von Alexander Kluges Werkarchitektur beruht nicht zuletzt auf einer Überproduktion an Mißverständnissen. So viele lokale Radios und Stadtblätter, die Idee von einer ganz anderen Zeitung – diese hier –, die er theoretisch mit zu verantworten hat, auch wenn das mit Oskar Negt verfaßte Buch „Öffentlichkeit und Erfahrung“ sehr viel weniger der Begründung eines Begriffs von Gegenöffentlichkeit standhält, als welche sie aufgefaßt wurde. „Wer die klassischen Öffentlichkeiten zerstört, ist ein Geschichtsverbrecher.“ Wer so spricht, erweckt den Anschein, politische Gefolgschaften hinter sich versammeln zu wollen. Dazu fällt mir eine Szene aus Charlie Chaplins „Modern Times“ ein, in der er die rote Signalfahne eines Lkw aufhebt und damit versehentlich einen Arbeiteraufstand auslöst. Kluge hat immer wieder Fahnen aufgehoben, aber nicht naiv.

Ist einer, der Aufstände anzettelt, um diese dann sich selbst zu überlassen, ein Verräter? Tatsächlich wurden Kluges beharrliche Bemühungen um eine eigene Fernsehlizenz so verstanden. Der Intellektuelle als Fernsehmacher, das klang nach einer perfiden Form des Verrats. Der Typus des Fernsehintellektuellen ist ja noch recht jung. Während Verräter nichts stärker zu fürchten haben als die soziale Exklusion, scheint der Verrat für Kluge eine Einstiegsvoraussetzung seiner strategischen List zu sein. Niemand bekam das zuletzt stärker zu spüren als die privaten Fernsehsender, denen Kluge zunächst nichts weiter zu sein schien als ein Garant für das Stück Pflichtkultur, das ihnen zum Lizenzerhalt aufgezwungen worden war. Helmut Thoma von RTL, der durch geschickt eingefädelte Kontrakte auf Kluges Firma dctp angewiesen ist, nannte das Fernsehen seines ungeliebten Geschäftspartners schlicht Quotenkiller. Für gewöhnlich blüht Fernsehleuten bei schlechten ratings der Rausschmiß. Alexander Kluge muß leider drinbleiben. Er macht Antifernsehen, doch anders, als man es sich seinerzeit unter dem Schlagwort der „proletarischen Öffentlichkeit“ glaubte vorstellen zu können. „Die Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos“ lautet der vielleicht schönste Titel eines Kluge-Films von 1967. Kunstvoll erzeugte Ratlosigkeit, wenn es das einzige wäre, wäre es schon eine ganze Menge. Harry Nutt

In der durch die Angriffe der Gegenwart auf die übrige Zeit geschwächten Erinnerung ist Alexander Kuge einer der wenigen westdeutschen Filmemacher, die intellektuell mit Godard mithalten konnten. Ein Regisseur der frühen BRD, dessen Name nicht nur im kalauernden Sinn Programm war. Alexander Kluge – das klang nicht nach Kunst und Seele, sondern nach der Form rigorosen Denkens, das in den Achtzigern mit dem Marxistischen Studentenbund kurz noch Pop wurde, bevor es ausstarb. Ein Mann des gesellschafts- und politwissenschaftlichen Kinos. Wie pawlowsche Ratten schickte er seine Versuchsbürger in die Versuchsanordnungen seiner Filme, um im Off genau zu erläutern, wie sie funktionieren. Das schaute man sich an, um zu lernen, wie die BRD, und wohl auch man selber, funktionierte, in der Gewißheit, die Gesellschaft würde sich schon zum Besseren verändern, verstünde sie sich erst.

Der Filmemacher Alexander Kluge schien von apodiktischer Bescheidenheit. Ein Lehrer, der die Dinge zur Sprache brachte, ohne selbst sprechen zu müssen: „Das Nervensystem ist nicht direkt verkabelt“, heißt es in „Utopie Film“. „Zwischen den Nervenenden befindet sich jeweils Zwischenraum, ähnlich einer (...) immer wieder unterbrochenen Straße. Auf dieser besonderen, umständlichen Organisationsweise der nur ungefähren Verknüpfungen beruhen menschliche Eigenschaften wie Freiheit, Gefühle.“ Im nachhinein klingt das ein bißchen wie Hippiephilosophie. In der Subjektlosigkeit traf sich Kluge mit den ostasiatisch Gesinnten.

Kluge war ein Lehrertypus, nimmt man das Pejorative mal weg, das sich seltsamerweise recht lange mit Lehrerposen in den linken Medien der Achtziger vertrug, und stellt man in Rechnung, daß die 68er mehr oder minder alle Lehrer wurden. Also ein Kluger, der Bescheid weiß, ohne ständig mit dem Finger in der Luft herumfuchteln zu müssen, wie das jetzt so üblich ist; einer, der sein „Minderheitenkino“ in einer Zeit machte, in der Politik und Denken ausgesprochen attraktiv waren und „Minderheit“ noch eindeutig positiv besetzt war. Wie jedem Lehrer lag ihm die Ironie eher als der Witz, mochten die Worte, mit denen er die Ziele seiner Protagonisten erklärte, auch sehr komisch wirken: Nach einem langen Arbeitstag ist der Angestellte Herr Sowieso einem „kleinen Abenteuer“ nicht abgeneigt und vergeht sich an einer Frau, die sich gerade vergiftet hat und bewußtlos in einem Vorstadtwald liegt. Sie wacht auf zu neuem Leben. Obszön glänzt ein Gummipenis. Der macht die Gefühle. Vielleicht war's auch die Patriotin. Als Typus stand Kluge nicht ganz allein im Modelldeutschland. Beim Rumswitchen trifft man manchmal auf alte „Tatort“-Filme, in denen sozialdemokratische Kommissare genauso wissend daherreden wie Kluge. In der Erinnerung. Denn auch in gutbestückten Videotheken sucht man seine Filme vergeblich. Detlef Kuhlbrodt