: Kohl beschnüffelt Jospin auf EU-Tauglichkeit
■ Beim heutigen deutsch-französischen Gipfel in Poitiers übt Präsident Chirac den Schulterschluß mit seinem sozialistischen Premier, um den Kanzler zu beeindrucken
Paris (taz) – Eine Woche lang bunkerte er sich ein. Jetzt lächelt Jacques Chirac wieder und tut so, als habe er nie etwas anderes gewollt als die Kohabitation mit einem Sozialisten. Am Vortag des deutsch-französischen Gipfels in Poitiers erklärten seine Sprecher gestern unisono mit denen von Lionel Jospin, daß Frankreich auch künftig „mit einer Stimme sprechen“ werde. Und daß es Einigkeit in der Europapolitik gebe.
„Ich habe meine Meinung nicht geändert“, behauptete der Wendehals Chirac, der vor zwei Jahren in seinem eigenen Wahlkampf ein Engagement „gegen soziale Ausgrenzung“ angekündigt hatte, und der auf den Treffen der G-8-Länder und der EU immer wieder – und folgenlos – beschäftigungspolitische Zusagen verlangt. „Es gibt keine Divergenzen zwischen Premierminister und Staatspräsident. Es geht darum, die französische Position zu stärken, damit wir in Amsterdam einen Kompromiß bekommen“, sagte die Sprecherin der neuen Regierung, die sozialistische Straßburger Bürgermeisterin Catherine Trautmann.
Chirac und Jospin haben in den vergangenen Tagen viel ausländischen Besuch gehabt, der mit ihnen ganz dringend über Amsterdam verhandeln wollte: Der niederländische Premier Wim Kok, EU-Präsident Jacques Santer und der britische Premier Tony Blair. Letzterer allerdings nur bei Chirac – „aus Zeitgründen“. Seit der Wahl am 1. Juni ist die französische Regierung samt Präsident in den Mittelpunkt der Europapolitik gerückt. Und beide Seiten versuchen, das für ihre Zwecke zu nutzen. Schon gestern hatten sie keine Zweifel mehr daran, daß sie ihre sozialpolitischen Vorstellungen in Amsterdam durchsetzen können.
So bleibt für das heutige Treffen mit Kohl in einem Vergnügungspark bei Poitiers vor allem das gegenseitige Beschnüffeln. Für die Beteiligten ist es das erste Mal in dieser Konstellation – statt dreier Konservativer deren zwei, von denen einer gelegentlich soziale Neigungen äußert, und ein Sozialist. Chirac kennt diese Konstellation schon aus seiner eigenen Zeit als Premierminister in den 80er Jahren. Als ihn der damalige Präsident Mitterrand nicht gebührend zu Wort kommen ließ, zündete sich Chirac demonstrativ gelangweilt vor Publikum eine Zigarette an.
Heute allerdings trampelt Chirac geschwächt auf einem Scherbenhaufen herum. Und Jospin hat zwar gesiegt, verfügt aber nur über eine kleine Parlamentsmehrheit und die auch nur in einer Kammer, weshalb er seiner Basis schnelle Erfolge bringen muß.
Eine gemeinsame Initiative, nach Art der Briefe, die sonst manchmal von dem „deutsch-französischen Motor“ am Vorabend von EU-Gipfeln an die übrigen Regierungs- und Staatschefs verschickt werden, erwarten die Teilnehmer heute in Poitiers nicht. Lang und kompliziert sollen auch die bilateralen Ministertreffen nicht werden. Da Jospin seine eigene Regierungserklärung erst am kommenden Donnerstag halten wird, sind die Aufgabengebiete seiner Minister noch nicht klar umrissen. Er wird nur wenige Minister mitbringen; angekündigt waren bis gestern nur Sozialisten. Das Vergnügen mit Grünen und Kommunisten werden die Bonner Koalitionäre erst beim nächsten Gipfel im September haben – in Weimar. Dorothea Hahn
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