piwik no script img

Groteskes Theater, Chaos-Konzert

■ Änderungen in der Erbanlage: Werkschau der Dead Chickens im Haus Schwarzenberg

„Mutabor“, 1. Person Singular Futur heißt „ich werde mich verändern“, kommt vom lateinischen Wort „mutare“: wechseln, verändern, sich (ver-)wandeln. In der Biologie ist die Mutation eine Veränderung in der Erbanlage. Im Märchen „Der Kalif Storch“ ist „Mutabor“ das Zauberwort, mit dem der Kalif seine menschliche Gestalt wiedererhält. Und Dr. Mutabor heißt der Wissenschaftler, dessen außergewöhnliche Kunstsammlung noch bis zum 1. Februar in der Galerie des Hauses Schwarzenberg in Berlin-Mitte zu bestaunen ist.

Einen eigenartigen Geschmack hat der sogenannte Doktor: Seine Sammlung besteht aus scheinbar lebendigen Figuren mit wulstigen Gliedmaßen, übergroßen Bäuchen, in denen fauchend andere Wesen zappeln, riesigen Blech- und Metallmonstern mit klappernden Schnäbeln und Greifarmen, bunten Collagen mit Phantasieweltszenarien. Die Berliner Künstlergruppe Dead Chickens, deren Gestalten seit 1986 nicht nur die lokale Kunstszene bevölkern, geben in der Ausstellung „Werke aus der Sammlung Mutabor“ einen Überblick über ihr Schaffen der letzten Jahre.

Den Rahmen der Ausstellung bildet eben jener Mutabor, wissenschaftlicher Kopf des „Labors für Evolutionsprognostik“ (LEP), in dem angeblich genetische Versuche an Tieren, Menschen und sonstigen Wesen unternommen werden. Eine Maus wurde durch „genetische Manipulationen“ in eine riesengroße „Boxmaus“ verwandelt, die Figuren verändern ihre Form.

Mutabor „gebiert“ in den Dead- Chickens-Bühnenshows die Monster, in seinen „Rebirthing-Shows“ auch mal sich selbst. So spielen die sechs KünstlerInnen seit über zehn Jahren mit den Themen Leben, Geburt, Mutation, Genetik und Geschlecht, setzen mit Phantasie ihre Ideen in spektakuläre Multimediaperformances um, samt eigener Dekorationen, Livemusik, Videoprojektionen, teilweise in Kostümen agierend, teilweise mit den pneumatisch animierten Wesen um sich herum inszeniert, mal groteskes Theater, mal Chaos- Konzert.

„Freaks und Mutanten des dritten Jahrtausends“ wurden die Dead-Chickens-Figuren im Kunstforum einmal genannt, dabei haben sie solch harmlose Namen wie „Püppi“, „Mutti“ oder „Bloch“. Furchteinflößend sind die Monstermaschinen denn auch nie, obwohl die zwei Meter hohe, wild fauchende „Mutti“ einem Gruselkabinett entsprungen scheint, und obwohl das „Schnabelscherenmonster“ ohrenzerreißend mit den scharfen Scheren klappert.

„Püppi“, eine Metallkonstruktion mit sinnlich-roten Lippen und charmantem Augenaufschlag, flirtet zischend und ihre künstliche Hüfte schwingend mit den Zuschauern, „Muttis“ Leibesfrucht hat mit seinen organischen Formen etwas niedlich-außerirdisches, so wie das gigantische Baby, das in „Alien 4 – Die Wiedergeburt“ mit seinen feuchten Augen Ripleys Muttergefühle wachkitzelt.

Auch die Stoffcollagen und die bunten, fast surrealistischen Comics von Breeda C.C., dem einzigen weiblichen Dead-Chickens- Mitglied, und die Zeichnungen von Hannes Heiner verbreiten trotz chaotischen und vollgestopften Inhalten eine eher fröhliche Stimmung.

Man fühlt sich bei der Werkschau im passend hergerichteten ersten Stock des Hauses wie im Bauch eines großen, organischen Versuchslabors oder in einem außerirdischen Zoo. Und Dr. Mutabor ist der Zoowärter und Versuchsleiter, der auf der Einladungskarte der Ausstellung mit breitem Grinsen und hutartigem Gehirnauswuchs in sein Kabinett lockt: Sehen, Erschrecken, vorsichtig Anfassen und Amüsieren, bitte schön. So sieht es aus in der schönen Welt der Mumien, Monstren, Mutationen. Jenni Zylka

Noch bis 1. 2. 98, Mi.–So. 16–22 Uhr, Haus Schwarzenberg, Rosenthaler Str. 39

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen