■ Nach dem Ende des UNO-Mandats hat jetzt eine Langzeitmission der OSZE in Ostslawonien die Arbeit aufgenommen. Scheitert sie?
: Europas zweite Chance in Vukovar

Die jugoslawische Katastrophe war auch eine Katastrophe der europäischen Politik. Und an deren Anfang stand die Eroberung Ostslawoniens durch die jugoslawische Bundesarmee im Herbst 1991. Die Bombardierung Vukovars, des wichtigsten Ortes der Region, seine Eroberung samt anschließender Tötung einiger tausend Zivilisten, die Massenflucht der Kroaten – all dies wäre zu verhindern gewesen, wenn die Europäische Gemeinschaft sich damals entschlossen hätte, den Nachschub für die Eroberer zu unterbinden. Viel zu spät ist Lord Owen, einer der Verantwortlichen des europäischen Gesamtdesasters in Jugoslawien, zu genau dieser militärischen Einschätzung gelangt.

Jetzt, nach dem 15. Januar 1998, erhält Europa, genauer die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), eine zweite Chance. Sie wird die Integration der Region in den kroatischen Staatsverband unterstützen und kontrollieren. Dabei werden ihr zwei Hauptaufgaben zufallen, die sich auf den ersten Blick wechselseitig ausschließen: Sie muß helfen, die Rechte der (alteingesessenen und neuen) serbischen Bevölkerung in Ostslawonien durchzusetzen, und sie muß die Rückkehr der vertriebenen kroatischen Bevölkerung sichern.

Leicht einzusehen, daß das Gelingen oder Scheitern der Mission Konsequenzen hat, die weit über die Grenzen dieses vergessenen europäischen Landstrichs hinausreichen. Gelingt es, die ursprüngliche, zahlenmäßig bedeutende serbische Minderheit zum Bleiben zu bewegen, gelingt es ferner, die nach der kroatischen Offensive von 1995 aus Knin und Westslawonien hierher geflohenen Serben wieder in ihrer ursprünglichen Heimat anzusiedeln, und wird es schließlich möglich, der vertriebenen kroatischen Bevölkerung die Rückkehr in ihre alten Wohnsitze möglich zu machen, so würde das multinationale Ostslawonien wiedererstehen. Die unmittelbaren Wirkungen für Bosnien-Herzegowina, die mittelbaren für alle ethnischen Konflikte im OSZE-Bereich lägen auf der Hand. Die Alternative hierzu wäre der ethnisch gereinigte, homogene Nationalstaat Kroatien und nochmals Zehntausende von Flüchtlingen.

Die OSZE kann sich bei dieser Herausforderung auf die zweijährige Arbeit der UNO-Verwaltung Untaes stützen, die, in Divisionsstärke militärisch präsent und mit exekutiven Befugnissen ausgestattet, Ostslawonien zwei Jahre lang quasi als UNO-Protektorat verwaltete. Die Gründe für den relativ großen Erfolg dieser Mission sind rasch aufgezählt: Sie stützte sich auf einen Vertrag (Erdut, November 1995) der Hauptgegner, Kroatien und Rumpfjugoslawien. Sie entwaffnete konsequent die paramilitärischen Banden, kaufte von der Bevölkerung Waffen zurück, entminte die Hauptverkehrswege und besetzte die Erdölraffinerie der Region, womit sie den Banden die Finanzgrundlage entzog. Sie handelte mit der kroatischen Regierung eine Reihe von Gesetzen aus, die von einer Rentenregelung über die Justizverwaltung bis zur Schulautonomie Rechte der serbischen Minderheit wenigstens im Grundsatz festlegten. Sie schaffte es, eine gemischt serbisch-kroatische Polizeitruppe aufzustellen, die es zu mehr gebracht hat, als übereinander herzufallen. Sie führte schließlich erfolgreich Wahlen durch, wenngleich auch heute nur 10 von 29 Gemeinden der Region eine funktionierende Gemeindeverwaltung bekommen haben. Sie wird schließlich mit fast 200 zivilen Polizisten bis Herbst dieses Jahres präsent bleiben und ein Auge auf die kroatischen Polizeieinheiten haben.

Nach dieser Vorarbeit scheint das menschenfreundliche Vorhaben der OSZE nicht ganz aussichtslos. Das Regime des Präsidenten Tudjman und seiner Partei, der nationalistischen HDZ, ist nach wie vor politisch wie ökonomisch auf die Europäische Union angewiesen, die innerhalb der OSZE die wichtigste Staatengruppe darstellt. Aber wie kann sich dieser Einfluß materialisieren, wie kann er in der Praxis, unterhalb der schweren und in der Regel wirkungsarmen Keule von Sanktionsdrohungen, wirksam werden?

Nach dem Himmelblau des Völkerfrühlings 1990 ist die KSZE samt ihrer Nachfolgerin, der OSZE, so oft totgesagt worden, daß sie im Schatten der frustrierten Hoffnungen ein ganz munteres zweites Leben beginnen konnte. Es ist wahr, die Organisation steht politisch und finanziell bemitleidenswert schwach da. Aber wo sie mit diesen schwachen Mitteln anläßlich ethnisch-nationaler Konflikte intervenierte, in Transkaukasien in Tschetschenien, in Moldawa und anderswo, kann sich ihre Arbeit sehen lassen. Seit Mitte der 90er Jahre verfügt die OSZE über ein Instrumentarium, das wenigstens im Ansatz eine konfliktorientierte Arbeit „vor Ort“ mit der Möglichkeit rascher politischer Entscheidungen verkoppelt. Drei Institutionen wirken zusammen: der „Ständige Rat“ als Exekutivorgan der 55 Mitgliedsstaaten. Das „Hohe Kommissariat“ für nationale Minderheiten, das wegen der Kontinuität seiner Führung eine relativ unabhängige Position errungen hat. Und die verschiedenen Langzeitmissionen der OSZE in Krisengebieten.

Es ist gerade die Distanz zu den Entscheidungszentren der Großmächte bzw. der EU, die es der OSZE gestattet, ihre kleinen Brötchen zu backen. Sie gewinnt eigenes Gewicht. Sie wird befähigt, in den Konfliktzonen mit den entstehenden Initiativen und Institutionen der „zivilen“ Gesellschaft, z.B. mit Menschenrechtsorganisationen, zusammenzuarbeiten oder sogar bei der Geburt unabhängiger Organisationen zu helfen. Erleichtert wird ihr diese Arbeit dadurch, daß die Langzeitmissionen nicht nur Berufsdiplomaten, sondern auch eine Reihe nicht beamteter Spezialisten beschäftigen. Wie die OSZE-Mission in der von Kroatien zurückeroberten Kniner Krajina mit dem „offiziellen“ Ombudsman für Bürger- und Minderheitenrechte erfolgreich zusammenwirkte, illustriert die politischen Möglichkeiten der Konfliktschlichtung.

Freilich, die Präsenz der Langzeitmission muß von den „Gastgebern“ geduldet werden, und sei es auch widerwillig. 1993 flogen die OSZEler aus dem Sandschak und dem Kosovo – ihre Visa wurden von der rumpfjugoslawischen Regierung nicht verlängert. Soll die Arbeit in Ostslawonien erfolgreich sein, so bedarf es nicht nur bedeutender Finanzmittel der EU, um die Repatriierung „in beiden Richtungen“ möglich zu machen. Notwendig bleibt auch politischer Druck „von oben“. Was die bange Frage aufwirft: Wie lernfähig ist die Europäische Union? Christian Semler