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Indien feiert seine Atomtests

Die von US-Präsident Bill Clinton verkündeten Sanktionen werden als eine nationale Herausforderung angesehen. Sie treffen auf eine Strömung in der Regierung, die auf wirtschaftlichen Isolationismus setzt  ■ Aus Neu-Delhi Bernard Imhasly

Die Bewohner des Dorfes Khetolai haben Süßigkeiten verteilt – eine Festtagsgeste, die sonst der Geburt eines Sohnes oder der Hochzeit einer Tochter vorbehalten ist. In diesem Fall feierten sie die Atomtests. Weder die erdbebenähnlichen Erschütterungen noch die Schäden an ihren Häusern, so berichtet ein Augenzeuge, hätten ihnen die Stimmung verdorben. Khetolai ist das letzte Dorf vor dem abgeschirmten Testgebiet des Pokharan-Hügelzugs in der Thar-Wüste, nur etwas über hundert Kilometer von Pakistan entfernt.

Die enthusiastische Reaktion von Leuten, die nur einige Kilometer von den unterirdischen Explosionsherden entfernt leben, ist symptomatisch für die Stimmung der indischen Bevölkerung. Nach den ersten drei Tests vom Montag registrierten Meinungsumfragen Zustimmungsraten von über neunzig Prozent – der Kontrast zu der internationalen Verurteilung könnte kaum größer sein.

Die Regierung von Atal Behari Vajpayee wird diese Unterstützung brauchen können, wenn die weltweiten Sanktionen zu schmerzen beginnen. Die am Mittwoch von US-Präsident Bill Clinton bekanntgegebenen Maßnahmen als Antwort auf Indiens nukleare Herausforderung werden ihre Wirkung nicht verfehlen. Der Entwicklungshilfestopp ist dabei nur die geringste Strafe. Die Hilfeleistungen bezifferten sich letztes Jahr auf nicht mehr als 53 Millionen Dollar, und sie strafen höchstens die Armen, die ohnehin keine politische Lobby darstellen. Die Einschränkungen bei Finanztransfers werden schärfer greifen. Die USA sind Indiens größter Handelspartner und Investor, und zahlreiche Lieferungen und Verträge, besonders im Infrastrukturbereich, werden in Zukunft nicht mehr durch Garantien der Exim- Bank abgesichert werden können.

Die potentiell wirksamsten Maßnahmen könnten jedoch eine Sperrung von Krediten der Weltbank und der Asiatischen Entwicklungsbank darstellen. Zusammen mit Japan, das seine Entwicklungshilfe ebenfalls eingestellt hat, verfügen die USA über genügend Stimmkraft in diesen Institutionen, um neue Keditvereinbarungen zu blockieren. Allein für den Straßenbau hat die Weltbank eine allgemeine Zusage von einer Milliarde Dollar gemacht, und Verhandlungen mit den einzelnen Bundesstaaten könnten nun auf Eis gelegt werden. Die ADB verhandelt gegenwärtig mit Indien über Kreditverträge im Umfang von 375 Millionen Dollar. Mit dem IWF dagegen bestehen keine Engagements.

Die Regierung und ihre Wähler empfinden die internationalen Sanktionen, wie Vajpayees Berater P. Mahajan sagte, eher als eine Herausforderung denn als Strafe. Sie werden dabei von der tiefsitzenden Grundstimmung getragen, daß Indien angesichts der Nachbarschaft zu Pakistan und China das Recht hat, sich militärisch adäquat zu sichern. Meldungen aus der US-Presse, daß Pakistan nun ebenfalls einen unterirdischen Atomtest plant, sind da nur eine Bestätigung des Weltbildes.

In dem armen Entwicklungsland werden die Atomtests auch als ein Machtsymbol gesehen. Die „Explosion des Selbstwertgefühls“, von der eine Zeitung nach den ersten drei Tests am Montag sprach, mag mit der Unfähigkeit des Landes zusammenhängen, die Probleme der Armut und des sozialen Fortschritts zu lösen, es ist damit aber nicht weniger real.

Es gibt sogar Stimmen, die die Sanktionen begrüßen. Die Maßnahmen treffen auf eine starke Strömung in der neuen Regierung, die das genaue binnenwirtschaftliche Äquivalent der Abschnürung von außen darstellt. Die sogenannte Swadeshi-Ideologie fordert eine Besinnung auf nationale Anstrengungen, die auch eine starke Dosis wirtschaftlichen Isolationismus enthält. Sanktionen, so befürchten liberale Kritiker, werden es daher Finanzminister Yashwant Sinha bei seiner Haushaltsrede in zwei Wochen leichtmachen, ein härteres Handelsregime mit höheren Importzöllen und Einschränkungen für Auslandsinvestitionen zu verkünden. Der nationale Stolz über die Atomversuche, gekoppelt mit einer Trotzreaktion auf die Sanktionen, werden es ihm dabei erlauben, die negativen Konsequenzen durch Steuererhöhungen zu kompensieren.

Es gibt allerdings auch ein anderes Szenario. Es baut auf der Beobachtung, daß die Regierung ein Aufputschen der nationalen Gefühle bisher vermieden hat und statt dessen signalisierte, daß sie bereit ist, sich internationalen Verpflichtungen zu unterwerfen. Diese pragmatische Haltung sowie die starke Position, welche ihr die Atomversuche gegeben haben, könnten es ihr erlauben, die Liberalisierung nicht zu bremsen, sondern auszuweiten. Sie würde damit nicht nur die Auswirkung der Sanktionen abschwächen, sondern international auch ein Signal geben, daß sich Indien nicht in den Schmollwinkel zurückzieht.

So meint etwa ein Finanzexperte der Firma Tata, B. R. Bhandari, daß Finanzminister Sinha selbst eine bisher schwer durchsetzbare Maßnahme wie die Öffnung des Versicherungswesens für private und ausländische Unternehmen verkünden könnte. Er könnte dies mit dem Hinweis auf die Notwendigkeit tun, privates Kapital anstelle der blockierten Weltbank-Kredite mobilisieren zu müssen. Dasselbe gilt für Auslandsinvestitionen, auf die Indien noch stärker angewiesen ist, wenn der amerikanische und japanische Kapitalfluß blockiert werden. „Das Budget in zwei Wochen“, so hofft ein Börsenmakler in Bombay, „könnte einen ebenso großen Knall produzieren wie die Atomtests in Pokharan.“

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