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Geglückte Grabsuche

■ Gestern wurde auf dem Urnenfriedhof Wedding das wiederaufgebaute Grabmal für Julius Martow, den großen Gegenspieler Lenins, eingeweiht. Die Nazis hatten die Grabstätte der Menschewiki getilgt

Eine rührende, an längst vergangene Tage der deutschen Arbeiterbewegung gemahnende Szene spielte sich gestern auf dem Urnenfriedhof im Wedding ab. Einige russische und deutsche Historiker, sozialdemokratische Würdenträger, der ehemalige Bürgermeister von Moskau, Gawril Popow, und der Ex-Diplomat und Journalist Aleksandr Bowin umstanden ein verhülltes Grabmal und hielten Ansprachen auf Menschen, deren Urnen dort seit über 70 Jahren begraben liegen: auf Julius Martow, den Führer der ins Exil gezwungenen Menschewiki, und fünf seiner Kampfgefährten.

Vor dieser Grabstätte hatte sich seit Ende der 20er Jahre die exklusive Gruppe der Berliner russischen Sozialdemokraten einmal im Jahr zu einer Gedenkstunde versammelt. Fotos wurden geschossen. Eins davon gelangte in den „Vestnik“, das von Martow begründete Exilorgan der Partei. 1933 mußten die Menschiwiki ihr geliebtes Berlin Richtung Paris verlassen, von wo die Überlebenden zu Beginn des Zweiten Weltkriegs nach New York emigrierten. Die Nazis beseitigten zu Beginn der 40er Jahre jede Spur des Weddinger Grabmals, sie tilgten sogar die Grabdokumentation. Dieser Stand der Dinge ließ den russischen Historiker Ilja Urilow nicht ruhen, der damals an einer dickleibigen Biographie Martows arbeitete, der ersten, die nach seinem Tod in Rußland erscheinen sollte. Zusammen mit Martin Hoffmann, einem deutschen Kollegen, machten sie sich, mit dem Foto bewaffnet, auf die Suche. Ein findiger Friedhofsangestellter fand im Keller der Verwaltung eine Karte auf den Namen Paul Axelrods, des „Patriarchen“ der Menschewiki, Martows Freund und ideologischen Antipoden. Seine Urne war 1928 neben der Martows beerdigt worden. Auf der Karte fand sich auch die Fundstelle des Grabs eingetragen. Den Wiederaufbau finanzierte Urilow selbst, unterstützt von der Weddinger SPD.

Die exilierten Menschewiki waren in Berlin eng mit der SPD verbunden gewesen, ihr gedanklicher Einfluß auf die deutschen Sozialdemokraten erwies sich als profund, vor allem, was ihre (allerdings viel zu optimistische) Einschätzung der sowjetischen Entwicklung anging. Politisch standen sie auf dem linken Flügel, und orthodoxe Marxisten blieben sie sowieso. An ihrer prinzipiell demokratischen Haltung haben sie allerdings nie den kleinsten Zweifel gelassen. Auch wenn es organisatorisch in Berlin fast so streng zuging wie bei den Bolschewiki. Christian Semler

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