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Jazz. (auch jenseits der 101,9 Mz)

JazzRadio-Mitarbeiter machen Jazz-Radio. Nun haben sie auch einen Jazz-Führer zusammengestellt, der zwar mit etwas gutem Willen in die Hosentasche paßt, sich darin aber immer noch sperrig genug ausnimmt  ■ Von Katharina Granzin

Für Berliner Kulturmenschen gehört es mitunter zum Lebensgefühl, ihre Stadt eine provinzielle Einöde zu schimpfen. Immer ist anderswo das Essen besser, ist die Kultur kultiger und der gemeine Mensch auf der Straße geschmackvoller gekleidet. Als in Berlin.

Das mag so sein oder auch nicht; eines hat Berlin jedenfalls, das es im Vergleich mit anderen deutschen Ballungszentren zu einer echten Metropole macht: ein eigenes Jazzradio. Denn ist nicht Jazz die Metropolenmusik schlechthin? Na bitte. Und mehr noch: Seit kurzem gibt es für Berlin sogar den deutschlandweit ersten Jazz-Stadtführer. Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen von JazzRadio 101,9 haben ihn geschrieben. Christian Broecking, Programmdirektor des Senders, hat die Pioniertat herausgegeben.

„Jazz in Berlin“ paßt mit etwas gutem Willen in die Hosentasche, was es bereits jedem herkömmlichen Stadtmagazin überlegen macht. In seinem ausgezeichneten Serviceteil finden sich neben kundig vorgestellten Veranstaltungsorten, Festivals und dem sonstig Üblichen haufenweise Informationen, die man anderswo nicht so einfach bekommt. So werden ausführlich Jazz-Lehr- und Lernanstalten beschrieben und Tips gegeben, wo spätabends zu Jazzklängen getanzt werden darf. Akribisch recherchiert sind alle regelmäßig stattfindenden Jam Sessions aufgeführt und nach ihrem „Spielfaktor“ klassifiziert. Dieser reicht von „einsteigerfreundlich“ (z.B. Kulturbrauerei oder Tränenpalast) bis „Be Fit or Quit!“ (z.B. A-Trane oder Atalante).

Außerdem bietet „Jazz in Berlin“ eine Art halbhistorischen Überblick über die Szene. Auf gedrechselte Metatexte verzichtet „Jazz in Berlin“ dabei dankenswerterweise komplett, zugunsten einer Reihe von ins Druckfähige gebrachten O-Tönen von Jazzern aus verschiedenen Lagern und von diesseits und jenseits der Ex- mauer. Die Palette reicht von dem in der DDR prominenten Jazzjournalisten Karlheinz Drechsel, der in Karlshorst für Leute „ab 40 bis unbegrenzt aufwärts“ einen Swing- und Dixieland-Schwof betreut, bis zum Westberliner komponierenden Free-Jazzer Alexander von Schlippenbach.

Daß dieser Szene-Überblick den Eindruck des Quasihistorischen vermittelt, ist dem hohen Durchschnittsalter der Interviewten geschuldet. Als einziger unter Fünfzig ragt der trompetende Mainstreamer Till Brönner als jugendlicher Held aus dem Heer der alten Recken. Die Einschätzungen der Szene sind in den Interviews auffallend unterschiedlich. Während der Schlagzeuger Ernst Bier beispielsweise die Offenheit und das Niveau der Berliner Szene hervorhebt (doch Bier ist nicht nur Musiker, sondern auch JazzRadio- Mitarbeiter und somit noch einer anderen Interessengruppe zugehörig), sieht Schlippenbach die Szene vor allem durch eine gewisse Engstirnigkeit gekennzeichnet. Und Till Brönner spricht Berlin das Niveau einer Jazzmetropole schlichtweg ab.

Es gehört zu den Stärken dieses kleinen Buches, die aufscheinenden Widersprüche nicht glätten oder erklären zu wollen, sondern sich auch ein wenig in der Hosentasche zu sperren. Schließlich ist es jedem und jeder überlassen, selbst loszuziehen und sich ein Bild zu machen. Das musikalische Spektrum, das „Jazz in Berlin“ abdeckt, ist allerdings etwas weiter als jenes, das JazzRadio 101.9 normalerweise sendet. Hier gilt vor allem das Kriterium der „Radiotauglichkeit“. Das bedeutet, daß auf der einen Seite Dixieland nicht ins Programm kommt, auf der anderen Seite Free-, Acid- oder HipHop- Jazz nicht oder nur ganz selten gespielt wird. „Ungefähr bis Ornette Coleman“, abgesehen von dessen Ausflügen in den Free-Jazz, definiert Christian Broecking die Radiotauglichkeit, „wir sind kein Expertensender“. Schließlich will man keine Nischenkultur betreiben, sondern Erfolg haben. Und dazu gehört es, einigermaßen massenkompatibel zu sein und dazu auch über eine bestimmte Szene hinaus noch Menschen (also die sogenannten Laien) anzusprechen. „Wir wollen Jazz in den Lebensalltag integrieren und den Leuten eine Welt zeigen, die schöner ist als das Gejammer, das drumherum passiert.“

Das Konzept scheint aufgegangen. Der kleinen Charlottenburger Ladenwohnung, in der das Projekt vor drei Jahren startete, ist der Sender kräftig entwachsen. Eine eigene Marketingabteilung ist entstanden, die die fürs Überleben des Senders nötigen Werbespots selbst produziert. Die Schar der ModeratorInnen ist von ehemals fünf auf 14 angewachsen, größtenteils im Haus ausgebildet, die ihre Sendungen ohne Techniker selbst fahren. Auch engagierte PraktikantInnen werden schon mal ans Mikro gelassen, doch die immerhin etwa 60 jährlich zu vergebenden Plätze sind heiß begehrt. Erst vor kurzem hat der aufstrebende Metropolensender sein neues, standesgemäßes Domizil bezogen, eine stilvoll-luftige Arbeitslandschaft mit viel Glas in den Gipshöfen. Hier in Berlin- Mitte residiert JazzRadio ganz erd- und alltagsnah in dezent urbanem Ambiente neben einem stadtbekannten In-Café. Der nächste Jazzclub ist gleich um die Ecke.

Christian Broecking (Hrsg.): „Jazz in Berlin. Wo man Jazz hören, spielen und kaufen kann“. Jaron Verlag, Berlin 1998, 120 Seiten, 16,80 DM

JazzRadio: 101,9 FM/102,45 Kabel; Sophienstraße 20/21, 10042 Berlin, Tel. 284000, Fax 28400-157. Auch über die JazzRadio-Homepage kann man per E-Mail Hörerwünsche für die sonntägliche Call-In-Show loswerden: http://www.wak.com/ JazzRadio

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