Wilde Tage am Chamissoplatz

Aus Anlaß des 20jährigen Bestehens des kampferprobten Mieterrates wird vor Ort eine Ausstellung über die Geschichte des Platzes und seiner Wandlungen gezeigt. Im alten Berlin war der Ort Weinberg, dann folgte die Bebauung, heute ist der Platz Sanierungskiez  ■ Von Lothar Eberhardt

„Berlin Chamissoplatz“ hat den Klang wie Alfred Döblins „Berlin Alexanderplatz“. Den letztgenannten, ein Platz mit Metropolencharakter und all seinen historischen Wunden, kennt jeder, und er liegt in der Mitte Berlins. Der Chamissoplatz ist für „Kenner der Szene“ der Kiez am Berg, Sanierungsgebiet, Galeriestandort, öfters Kulisse für „Milieufilme“, in Vormauerzeiten auf der obligatorischen Touristenroute, heute Standort eines der ersten Ökomärkte Berlins und des alljährlichen Chamissoplatzfestes.

Der Platz, der dem Gebiet den Namen gab, ist ein fast gänzlich erhaltenes städtebauliches Kleinod im südwestlichen Teil Berlin- Kreuzbergs. Versteckt hinter Häuserzeilen, begrenzt vom steil ansteigenden Mehringdamm, dem Kartellamt, dem Columbiadamm am Flugplatz Tempelhof, dem Areal der Friesenkaserne und der bekannten Trödlermeile Kreuzbergs, der Bergmannstraße, befindet sich der Platz wie eine grüne Oase zwischen den Häuserquadern eingebettet.

Ein verträumtes Idyll, das bei sommerlichen Temperaturen den Hauch einer „mediterranen Piazza“ versprüht.

Nomen est omen. Trägt der Platz doch den Namen des als Romantiker geltenden Dichters, Philosophen und Naturforschers Adelbert von Chamisso (1781–1838), der nach den Wirren der Französischen Revolution 1796 mit seiner Familie im aufstrebenden preußischen Berlin „Asyl“ fand. Ein ehrenvoller Namensgeber für den seit 1890 nach ihm benannten Platz.

Seit 1964 ist der Chamissokiez – der Kiez, das Dorf in der Stadt, das überschaubare Viertel – als „geschützter Baubereich“ ausgewiesen. Durch die ersten vorbereiteten Untersuchungen zum Sanierungsgebiet 1974 und die öffentlichen Erörterungsveranstaltungen des Senats wurden die Mieter aufgeschreckt, die ersten zogen verunsichert weg.

Engagierte Mieter organisierten sich, führten Hausversammlungen durch, wählten Hausobleute, die sich regelmäßig trafen, und gründeten 1978 den Mieterrat Chamissoplatz. Der Mieterrat verstand sich als Betroffenenvertretung und wurde dem vom Senat gebildeten Sanierungsbeirat, dem Mitwirkungsgremium, das zwischen Sanierern und Sanierten vermitteln sollte, entgegengesetzt.

Mit der förmlichen Festlegung des „Untersuchungsbereiches Kreuzberg-Chamissoplatz“ zum Sanierungsgebiet 1979 erhielt der Mieterrat endlich die geforderte Anerkennung und das Vor-Ort- Büro, den Mieterladen, direkt am Platz.

Der Mieterrat führte Aktivitäten gegen geplante Luxussanierungen durch den Sanierungsträger, die gemeinnützige Wohnungsbaugesellschaft Gewobag, durch. Sanierungsbetroffene wurden betreut. Um jeden Abriß, vor allem von Seitenflügeln und Hinterhäusern, wurde gestritten und gegen den Wohnungsleerstand sich vehement eingesetzt.

Die erste Hausbesetzung 1980 und die Sympathie in der Bevölkerung für Instandbesetzung führte zur Veränderung in der Politik und zur „behutsamen Stadterneuerung“ auch im Kiez.

Das Verhältnis zwischen Mieterrat und Gewobag wandelte sich in den nächsten Jahren zur „kritischen Partnerschaft“, eine eigentümerunabhängige Mieterberatung übernahm die Mieterbetreuung.

Die Mieterratarbeit veränderte sich in Richtung Mieterhofbegrünung, Verbesserung der Verkehrssituation und die drohende Mietexplosion vor allem im Gewerbereich.

Der Kiezhistoriker und Mieteraktivist der ersten Stunde, Lothar Uebel, hat sich nun – zum 20. Geburtstag des Mieterrats – der geschichtlichen Aufarbeitung des Chamissokiezes angenommen und eine Ausstellung dazu konzipiert. In deren Zentrum steht die abwechslungsreiche, interessante, über fast drei Jahrzehnte gehende Sanierungsgeschichte des Kiezes und Zeit der „bewegten Jahre der Instandbesetzung“ – in der Hochphase der Hausbesetzung waren allein im Chamissokiez über zehn Häuser der „Luxusmodernisierung“ entzogen und der „behutsamen Stadterneuerung“ zugeführt worden.

Den Rahmen der Ausstellung, die in der früheren „guten Stube des Mieterrates“, im „Heidelberger Krug“ gezeigt wird, bildet die Geschichte des Gebietes.

Unterhalb des natürlichen Bergrückens vor dem Dorf Tempelhof, der sich vom heutigen Südstern entlang der Bergmannstraße bis zum Kreuzberg erstreckte, wuchs auf sandigem Grund ein „ganz fürtrefflicher Wein“, der nicht nur am Hofe getrunken, sondern bis Polen und sogar Schweden und Rußland exportiert wurde.

Dieses „Kulturgut“ erbrachte 1595 ein erträgliches Geschäft, so konnten von den Weinbergen 36 Tonnen Rebensaft verkauft werden. Ab 1740 war Schluß mit der „Tempelhofer Hanglage“.

Die aufstrebende Militärmacht Preußen benötigte für ihre Garnisonen Exerzier- und Paradeflächen. Das Tempelhofer Feld wurde dafür genutzt. Später entstanden Wehranlagen auf dem Bergrücken, die von Kasernengebäuden und Brauereien mit Biergärten abgelöst wurden. Am Tempelhofer Berg hat die landwirtschaftliche Nutzung den städtebaulichen Anforderungen weichen müssen. 1861 wurde das Gebiet von Berlin eingemeindet.

Zuvor hatte sich auf dem sandigen Grund des Hanges die Kunheimsche Chemiefabrik angesiedelt, die in östlicher Richtung an die Parochie der Dreifaltigkeitsgemeinde grenzte.

Dort wurde ein notwendig gewordener neuer Kirchhof angelegt, auf dem Berliner Persönlichkeiten wie der Architekt Martin Gropius, der Prediger Friedrich Schleiermacher, der Maler Adolph Menzel und weitere Prominente ihre Begräbnisstätte fanden.

In der Nachbesserung zum Hobrechtplan, dem Berliner Bebauungsplan seit 1862, wurde das heutige Sanierungsgebiet Chamissoplatz 1877 am Reißbrett entworfen.

Die ersten Wohngebäude entstanden 1880 an der Belle-Alliance-Straße, dem heutigen Mehringdamm, Ecke Bergmannstraße. Die Blockbebauung am Chamissoplatz folgt erst 1890, gleichzeitig mit der Bebauung der Blockinnenräume auf den kleinteilig parzellierten Baugrundstücken. Bis 1909 war der ganze Chamissokiez mit seinen engen Hinterhöfen vollständig bebaut.

Über dem Stammtisch im „Krug“ empfangen den Betrachter historische Bilder des Kiezes. Im großen Gastraum sind der Blickfang typische Mietshausfassaden, die den Weg zu den anderen Bildertafeln der Sanierungsgeschichte weisen.

Der enge Nebenraum lädt ein, die Auseinanderstzung mit der Besetzergeschichte durch ausliegendes Material zu vertiefen. Die „Erlebnisgastronomie“ der ganz anderen Art!

Wie in jeder guten Ausstellung ist ein „Katalog“ erhältlich. Die Broschüre mit dem Titel „Am Berg gebaut – über hundert Jahre Chamissokiez“ – kann anschließend zur weiteren Vertiefung am Tresen zu einem Preis von 7,50 Mark erworben werden. Die finanzielle Unterstützung der Gewobag, dem Sanierungsträger, und der Passionsgemeinde ermöglichte dies.

Bis 11. September 1998 – über das jährlich stattfindende Chamissoplatzfest am 22. und 23. August hinaus – lädt die Kiezkneipe „Heidelberger Krug“ täglich ab 16 Uhr und samstags ab 10 Uhr bis zum Morgengrauen direkt zum Ausstellungsbesuch, Arndtstraße 15, ein.