: Neben Salz fehlt auch die Suppe
Weißrußland in der Krise: Die Inflation galoppiert, und Lebensmittel sind zu hohen Preisen auch noch Mangelware. Diktator Lukaschenko träumt derweil vom Kreml ■ Von Barbara Oertel
Berlin (taz) – Auf diesen Moment hatte Weißrußlands Staatspräsident Alexander Lukaschenko nur gewartet. „Rußland muß nun zwischen Kollaps und Stabilität wählen“, kommentierte er lehrmeisterhaft bei einem Besuch der Ölförderstadt Rechitsa in der vergangenen Woche die Ereignisse beim großen Bruder. „Moskau sollte sich für die guten Dinge entscheiden, die bei uns erprobt wurden und funktioniert haben.“ Wie gut die Wirtschaft in Weißrußland funktioniert, wo der Staat noch die meisten Betriebe besitzt und Reformen verhindert, erlebt die Bevölkerung jeden Tag. Mit Durchschnittsgehältern von umgerechnet 40 Dollar und Renten von 30 Dollar leben die meisten Menschen am Existenzminimum.
Wichtigster Partner des 10-Millionen-Einwohner-Staates ist Rußland, mit dem Weißrußland in einer Zollunion verbunden ist und allein 80 Prozent seines Außen-, genauer gesagt: Tauschhandels abwickelt. Minsk liefert in der Hauptsache Traktoren und Elektrogeräte wie Fernseher und erhält dafür Energie. „Die blinde Orientierung auf Rußland, dem wir wegen Energielieferungen am Rockzipfel hängen, ist ein politischer Fehler“, sagt ein Banker in Minsk. „Das Land ist die Geisel einer fremden Wirtschaft.“
Diese Politik könnte Weißrußland teuer zu stehen kommen. Denn die Finanz- und Wirtschaftskrise in Rußland droht auch den kleinen, ohnehin angeschlagenen Nachbarn mit in den Abgrund zu reißen. Zwar hält die Regierung den offiziellen Wechselkurs künstlich bei mittlerweile 60.000 weißrussischen Rubeln zu einem Dollar. Auf dem Schwarzmarkt mußten am Dienstag schon 110.000 Rubel gezahlt werden. Die Rubelabwertung in Rußland könnte Weißrußland Verluste von bis zu einer Miliarde Dollar bescheren, schätzen Experten in Minsk.
Mit dem Absturz der Währung gehen massive Preiserhöhungen einher. So ernten die Händler auf dem Komorowski-Markt im Zentrum von Minsk nurmehr Kopfschütteln von ihren Kunden. Allein in der vergangenen Woche stiegen die Preise für Grundnahrungsmittel um über 100 Prozent: Ein Kilo Mehl kostet 44.000 Rubel statt 20.000, für ein Kilo Zucker muß der Käufer 40.000 anstatt 28.000 Rubel wie noch sieben Tage zuvor hinblättern. Wenn es etwas gibt. „Bei uns in den Geschäften war gestern nicht einmal Salz zu finden“, schimpft die 72jährige Anna Kowalewa aus Minsk. Wenn überhaupt mal Ware eintreffe, sei alles inerhalb kürzester Zeit ausverkauft. In einigen Gebieten wurden wieder Lebensmittelbezugsscheine ausgegeben.
Noch Ende August hatte der Internationale Währungsfonds eindringlich eine Liberalisierung des Wirtschaftssystems angemahnt und dabei auf die Handelsbilanz verwiesen. Bereits in den ersten sieben Monaten belief sich das Handelsdefizit auf 876,7 Millionen Dollar. Doch Sowjetnostalgiker Lukaschenko setzt auf eigene Rezepte. Vor kurzem gab die Zentralbank bekannt, für die zweite Jahreshälfte 16,6 Billionen Rubel (193 Millionen Dollar) drucken zu wollen. Kurz darauf kündigte die Regierung an, vom 1. Oktober an die staatlichen Gehälter um 20 Prozent zu erhöhen. Für etwaige Engpässe in der Versorgung mit landwirtschaftlichen Gütern hatte er bereits vor Wochen vorgesorgt. Unter dem Motto „Auf den Feldern arbeitet, wer noch kriechen kann“ wies er die Direktoren der Kolchosen an, die Bevölkerung für den Ernteeinsatz zu rekrutieren. Den Eifrigsten winken Autos oder Fernseher als Prämie.
Lukaschenko bewies diese Woche auch wieder, daß er schnell reagieren kann. Ab sofort ist es Kleinhändlern untersagt, Waren zwecks Verkaufs außer Landes zu bringen. Wer gegen diese Bestimmung verstößt, für die es wie üblich keine gesetzliche Grundlage gibt, riskiert die Konfiszierung der Ware und eine Gefängnisstrafe.
Doch Lukaschenko wäre nicht er selbst, würde er nicht versuchen, die Krise für sich zu nutzen. Schon lange träumt der Diktator davon, in einem mit Rußland vereinigten Staat im Kreml zu regieren. Da paßte es ganz ausgezeichnet, daß das Minsker Parlament dieser Tage vorschlug, auf eine Staatsbürgerschaft für Russen und Weißrussen sowie Wahlen zu einem gemeinsamen Parlament zu dringen. „Dieses Parlament wäre dann die legitime Landung von Alexander Lukaschenko auf dem russischen politischen Feld“, orakelte die russische Tageszeitung Iswestija. Doch diese Befürchtung teilen nicht alle. „Das würde den russischen Oligarchen überhaupt nicht ins Konzept passen“, sagt Boris Gjunter, Vertreter der weißrussischen Opposition. „Die wollen, daß alles so bleibt, wie es ist.“
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