Megasüß und Biedermann

■ Die ARD wollte den Schlager-Grand-Prix zum Popereignis machen. Doch beim Vorentscheid droht nun ein Volkstümler die Sache zu stören

Vor drei Jahren wurde der Schwarze Peter dem NDR zugeschoben. Kein anderer ARD-Sender wollte diese Sendung noch haben. Im Jahr 1996 galt der Grand Prix d'Eurovision als kollektiver Murks, der weder die konsumfreudige Jugend noch die Musikindustrie interessierte. Der NDR und sein Beauftragter Jürgen Meier- Beer hatten sozusagen keine Chance und nutzten sie. Voriges Jahr schien es dann geschafft. Sowohl die nationale Vorentscheidung als auch der internationale „Eurovision Song Contest“ am 9. Mai in Birmingham zählten am Ende des Jahres zu den erfolgreichsten Popmusiksendungen des TV-Jahres.

Zu verdanken hatte dies der NDR auch Guildo Horn. Der „Meister“ – der schon vor seinem Auftritt dank etlicher Konzerte im erweiterten Popunderground viel Straßenkredit bei den Hipstern sammeln konnte – mobilisierte über den Popsender Viva, Bild und andere Boulevardmedien Millionen. Horn und Nußecken – das war das Zeichen, daß das Ereignis sich entstauben läßt. Das war auch der Grund, warum die deutsche Vorentscheidung heuer auf anderthalb Stunden ausgeweitet wurde – zur besten Sendezeit nach der „Tagesschau“.

Doch der Erfolg hatte offenbar ein kurzes Verfallsdatum. Denn dieses Jahr scheint es nicht so gut zu laufen. Da hatte man geglaubt, jetzt sei endlich Schluß damit, daß in der Sendung nur Nonames und Nullnummern auf der Bühne stehen. Doch dieses Jahr heißen die Stars wieder Carol Bee, Corinna May, Cathrin, Megasüß, Elvin, Naima, Jeanette Biedermann.

Gewinnt so einer, ist die ganze Arbeit dahin

So kann wieder ein Musikkonzern einen seiner Bestsellers ins Rennen schicken: Patrick Lindner, der Mann, der vor zehn Jahren im Volksmusikfach anfing und mittlerweile in den Schlagermuff geschlüpft ist. Er ist beliebt und hat von allen Popstars des Landes die meisten Fanclubs, die heute abend eifrig die Ted-Nummern wählen dürften, wenn über den Sieger entschieden wird. Daß alle Welt seit seiner Adoption eines Jungen aus Rußland davon ausgeht, der Lindner sei schwul, hat seiner Karriere keinen Abbruch getan, im Gegenteil. Doch den NDR gruselt's: Gewinnt so einer, zumal mit dem Titel „Ein bißchen Sonne, ein bißchen Regen“, wird es wieder heißen, daß der Grand Prix d'Eurovision nur eine Veranstaltung ist für Muttis mit Frau im Spiegel auf den Schößen.

Daher hoffen viele beim NDR insgeheim, daß eine Gruppe den Sieg davonträgt und gen Israel reisen darf, die im Stall von Mr. Grand Prix Ralph Siegel („Ein bißchen Frieden“) zusammengecastet wurde: „Sürpriz“ ist eine Gruppe von sechs deutschen Musikern mit türkischer Herkunft. Der Münchner Meister, der im vorigen Jahr von seinen drei Beiträgen keinen einzigen aufs Podest bringen konnte, hat gelernt: Multikulti hat er als trendy ausgemacht. Dabei auf die Sprünge geholfen hat ihm das Abstimmungsergebnis der beiden letzten Jahre.

Die meisten Stimmen aus Deutschland gingen da an den türkischen Beitrag – angerufen wurde en masse aus Einwandererbezirken wie Berlin-Kreuzberg und -Neukölln oder Hamburg-Altona.

CSU-Freund Siegel setzt ganz auf Multikulti

Siegel, für den alles nichts ist, was nicht Sieg bedeutet, spekuliert unverhohlen auf diese Anrufer. Da kann der Mann sogar seine sonstige CSU-Schlagseite vergessen, die er gesprächsweise als „in Bayern zwingend“ rechtfertigt. Ob „Sürpriz“ freilich Anklang finden wird...? Das Stück „Reise nach Jerusalem“ klingt irgendwie türkisch, aber auch nicht zu sehr.

Wenigstens hat der NDR dafür gesorgt, daß in diesem Jahr viele Titel auf englisch gesungen werden. Erstmals sind alle Sprachen erlaubt, bei den nationalen Ausscheidungen genauso wie später international: Länder wie Slowenien oder Lettland glaubten nämlich, daß ihre Sprachen zu spröde klingen bei den jugendlichen Telefonwählern; die ARD glaubte zudem, daß Englisch einfach moderner klingt. Patrick Lindner wird trotzdem in seinem typischen Bayerisch singen, „Sürpriz“ deutsch und türkisch. Der Rest ist Sache der Anrufer. Jan Feddersen