: Von Poe bis Elvis
Mit seinen Theater- und Hörspielproduktionen agiert Albrecht Kunze in der Nische zwischen Hochkultur, Technoclub und elektronischem Experiment ■ Von Martin Pesch
Es liegt einem auf der Zunge. Aber man kommt einfach nicht drauf. Welches Stück ist das bloß? Dabei hat man es doch schon hundertmal gehört. Noch ein bißchen zuhören, noch eine Strophe – plötzlich fällt der Groschen. Klar, das ist „Helter Skelter“ von den Beatles – dieser dramatisierte Drogensong, der seinerzeit nicht wenige ergebene Fans erschreckt hat. In der Version des Frankfurter Musikers Albrecht Kunze ist die Dramatik, die musikalische Übersetzung des Rausches, bis zum Gehtnichtmehr stilisiert. Das stoisch rhythmusgebende Cello, die trockene Stimme, die tönt, als spreche sie eher ein Urteil über das Original, als daß sie es nachbildet. Ähnlich verhält es sich mit Kunzes Fassung des Elvis-Klassikers „Heartbreak Hotel“, der er mit monotonen Streichern, klanglich verfremdetem Gesang und akustischer Gitarre jeden Schwung nimmt. Diese Coverversionen von nicht gerade unbedeutenden Stücken der Popgeschichte klingen, als seien sie von jemandem gemacht, dem ihr historischer Kontext vollkommen fremd geworden ist, von jemanden, der irgendwo ein Notenblatt aufliest und das Stück nachspielt, ohne ein Wissen über die Umstände der Entstehung. Selbstverständlich weiß Kunze alles über diese Umstände, aber es ist ihm wichtig, daß sich seine Arbeiten in einer „Vakuum-Gegenwart“ befinden, wie er es nennt, dort, wo das geschichtliche Material sich einen neuen, eigenen Kontext schaffen muß.
„Heartbreak Hotel“ und „Helter Skelter“ erschienen im letzten Jahr auf einer EP auf dem Hamburger Label Studio 54. Kunze brachte sie dort unter dem Projektnamen Lamé Gold heraus. Dieser Name spielt einerseits auf den berühmten goldenen Anzug Presleys an, zeigt aber durch die Umstellung der normalen Wortfolge, daß Kunze einiges daran liegt, bei der Orientierung an der Vergangenheit seinen eigenen Zugriff deutlich zu machen. Auf dieser EP, „Limit“ betitelt, waren drei weitere Stücke zu hören. Von Kunze selbst geschriebene Streicher-Etüden, deren romantischer Duktus am ehesten mit einigen Adagios Hans Werner Henzes zu vergleichen ist. Alle fünf EP-Stücke haben lange in der Schublade gelegen, bis sie endlich in Vinyl gepreßt wurden. Sie stammen aus Jahre zurückliegenden Theater- und Hörspielproduktionen Kunzes. Die Platte bildet insofern das Bindeglied zwischen seinem musikalischen Schaffen im, nennen wir es „hochkulturellen Bereich“ und seinen aktuellen Veröffentlichungen im offenen Feld zwischen Technoclub und elektronischem Experiment.
Nachdem Kunze in München sein Studium der Theaterwissenschaft abschloß, begann er mit einer kleinen Gruppe um den Regisseur Oliver Hardt an der Off-Bühne des Frankfurter Theaters am Turm an neuen Formen theatralischer Darstellung zu arbeiten. Zu sehen bekam man offene szenische Versuche, die von wenigen literarischen Zitaten ausgingen. Kunze war für die Musik zuständig, wobei diese Zuständigkeit keine Einschränkung bedeutete, am Konzept der jeweiligen Aufführung mitzuarbeiten. „Mir kam diese Arbeit damals gerade recht,“ sagt er, „weil ich über meinen musikalischen Weg sehr im unklaren war. Ich hatte einige Versuche mit Bands hinter mir und wußte nicht, wie ich mit Gesang und Text, die mir sehr wichtig sind, arbeiten sollte. Durch die Theaterarbeit konnte ich anhand musikfremden Materials musikalisch viele Dinge ausprobieren. Meine Musik hatte im Stück zwar zu funktionieren, darüber hinaus steckte ich für mich aber neue Grenzen ab.“ Nach 1992 gab es keine Möglichkeit mehr für die Truppe, ihre Inszenierungen am TAT zu realisieren. Die Gedächtnislosigkeit der Gattung Theater verhindert, daß ihre Arbeiten heute, wo man in Deutschland von einer Szene sogenannten Poptheaters spricht, wiederentdeckt werden könnten.
Das letzte verwirklichte Stück hieß „Poe“. Und ein Abschnitt aus Edgar Allen Poes Story „Das vorzeitige Begräbnis“ steht auch im Mittelpunkt von Kunzes erstem Hörspiel „Slight rushing Moments“, 1994 vom Bayerischen Rundfunk produziert. Das Stück ist aufgebaut wie eine Suite, in der sich gesprochene Passagen, regelrechte Songs, klassisch gesungene Lieder und Soundexperimente aneinanderreihen. Den Zusammenhang bildet Poes Geschichte, in der es um die Beschreibung einer undefinierbaren psychischen Krankheit geht. Es macht also nichts, wechselt man zwischendurch mal den Sender, denn so etwas wie eine zu verfolgende Handlung gibt es hier nicht. Das Kreieren einer bestimmten Atmosphäre mittels unterschiedlicher Elemente steht auch beim kurz darauf fertiggestellten und vom Hessischen Rundfunk gesendeten Hörspiel „Be my Brain“. Auch dieses nimmt erneut Bezug auf Poe, diesmal auf die Geschichte „Grube und Pendel“. Beide Arbeiten sind sich darüber hinaus in ihrem ruhigen Fluß ähnlich, in ihrem Mangel an Dramatik.
Ganz anders die beiden zuletzt von Kunze produzierten Hörspiele „Big Beat“ (1995, BR) und „Golfkrieg Girls & Boys“ (1997, BR). Auch sie bilden eine Art Doppel, was Thema und Hörcharakter angeht. Bei „Big Beat“ geht es um ein weibliches Gesangstrio, das zur Truppenunterhaltung in ständigem Fronteinsatz ist. „Golfkrieg Girls & Boys“ handelt von einer Musikgruppe, die auf dem Weg zum Einsatz an der Front abgeschossen wird und sich zum nächsten Camp durchschlagen muß. Beide Stücke sind dichte Collagen von Songs, Klängen und Kunzes eigenwilligen Bandwurmsätzen. Beide haben einen nachvollziehbaren Plot, und beide verhandeln musikalisch ein bestimmtes Interesse. Einmal ist es die Songästhetik der Girl Groups der sechziger Jahre, beim anderen ist es Sly Stone, dessen 69er-Album „There's a Riot going on“ mehrfach zitiert wird. „Mir geht es“, erläutert Kunze, „dabei nicht um irgendein Retro-Ding. Was die Texte und die Handlung betrifft, sind die Stücke in einem zeitlosen Raum angesiedelt, und ich möchte nicht, daß die Musik die Zeit definiert. Das Verwenden bestimmter vergangener Melodien oder Songs oder Anleihen an sie soll die Stükke eher über die Zeit hinausheben. Diese Lieder sind Allgemeingut, sie sind nicht mehr an Zeit gebunden. Es ist für mich auch schwer vorstellbar, aktuelle Musik am Theater oder im Hörspiel zu verwenden. Genausowenig wie ein DJ etwas auf einer Theaterbühne zu suchen hat, genauso fände ich einen 4-to-the-floor-Beat in meinen Hörspielen unpassend.“
Obwohl die Rundfunkanstalten ohne Unterlaß Hörspiele senden, fällt, wird nicht gerade der Hörspielpreis der Kriegsblinden verliehen, wenig Licht der Öffentlichkeit auf diese Gattung. Auch für Kunze wuchs die Frustration darüber, so gut wie keinerlei Resonanz auf seine Arbeiten zu bekommen. Die Suche nach neuen Möglichkeiten begann. Mit Nik Duric und Christoph Reiman bildet er die Band B-Recordings, die inzwischen auf dem Wiener Label Cheap und dem Weinheimer Aushängeschild Payola veröffentlicht. Die neueren Aufnahmen sind ruhig fließende, über sanft schiebendem Baß angelegte Instrumentalnummern.
Obwohl auch Kunzes gerade erschienenes Debütalbum „Testarchiv“ so gut wie ohne Texte auskommt und zwischen hochenergetischen Breakbeats und gemächlicheren Soundscapes pendelt, spricht er selbst immer wieder von der „Faszination für Songs“. „Testarchiv“ enthält einige Verweise auf die ewigen Meister des Songs, die Beatles auf der einen, die Beach Boys auf der anderen Seite. Aufgenommen wurde die Platte im Silberner Stern Studio, jenes der Beach Boys hieß Golden Star. Ihrem Schlagzeuger huldigen gleich zwei Stücktitel: „Dennis Wilson under water“ und „Drowned under influence“ – bekanntlich ertrank der Mann. Die Beatles erscheinen sogar im Original. Am Ende von Kunzes Stück „The Rooftop Session“ hört man den Applaus des spärlichen Publikums beim letzten Auftritt der Band auf dem Dach des Apple-Buildings in London. Und der Titel von „Gm 7/11“ meint natürlich keinen anderen als den Anfangsakkord von „A hard Day's Night“.
Bei soviel Verweisen auf die Säulenheiligen des Songs zeugt es von großem Bewußtsein über dessen aktuellen Status, wenn Kunze im einzigen Song auf der Platte singt: „Das ist die Gesangsversion/Mit Gesang als Klangoption/in Frequenzen moduliert/was die Filterung passiert.“ Der Marsch durch die Institutionen liegt hinter ihm, kein Grund also, sich an ihnen zu vergreifen.
Albrecht Kunze: „Testarchiv“ (Disko B/Efa) B-Recordings: „Mitchum Mountain“ (Payola/V2) Die Hörspiele von Albrecht Kunze sind als CDs erhältlich, erschienen auf Orkestrion Schallfolien, Tel.: (0 69) 25 25 24.
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