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Tausendundein Exotismus

■  Die Suche nach sich selbst als eine andere Form von Exotismus. Gillies MacKinnon kritisiert in seinem Film „Marrakesch“ an seinen Figuren, was er selbst praktiziert

In einem kleinen, weißgetünchten Raum bedrängt eine junge Frau in bunten Kleidern den Bankangestellten: Ein Versehen liege vor, der Scheck müsse eingetroffen sein, sagt sie flehend auf französisch. Der Mann hinter dem Schalter bleibt hart. Spätestens wenn er beginnt, Arabisch zu sprechen, und die junge Frau auf englisch schimpft, ist das Gespräch beendet.

„Marrakesch“, der neue Film des schottischen Regisseurs Gillies MacKinnon („Small Faces“), beruht auf einer wahren Geschichte. Anfang der siebziger Jahre reiste die damals zehnjährige Esther Freud, Tochter des Malers Lucian Freud und Urenkelin Sigmund Freuds, mit ihrer Mutter und der älteren Schwester für eineinhalb Jahre durch Marokko. Ihre Reiseerinnerungen hat sie 1992 unter dem Titel „Hideous Kinky“ veröffentlicht; der Bruder des Regisseurs, Billy MacKinnon, hat daraus das Drehbuch für den Film gemacht. Erzählt wird von einem Experiment, das heute, wo nicht nur die Hochschulsonderseiten des Spiegel glauben machen wollen, daß Karriere das Ziel aller Zwanzigjährigen sei, fremd erscheint. Fast will man meinen, MacKinnons Film bebildere ein anderes Jahrhundert, wenn er einer Jeunesse dorée vergangener Tage dabei zuschaut, wie sie die europäischen Metropolen verläßt, sich ins Batikkleid hüllt und in der Ferne nach Erleuchtung oder sich selbst sucht.

„Hier ist unser Zuhause, in Marokko, in Marrakesch. Wo könnte es denn schöner sein“, schwärmt denn auch Julia (Kate Winslet), die in „Marrakesch“ den Part der Mutter übernimmt. Sie schwärmt, obwohl sie wenig von dem Land und dessen Bewohnern versteht, geschweige denn deren Sprache. Als sie mit dem Geliebten Bilal (Sad Taghmaoui) in dessen Heimatdorf fährt, fühlt sie sich willkommen. Die feindseligen Blicke einer anderen, der Bilal versprochenen Frau, nimmt sie gar nicht wahr.

„Ich bin nicht auf der Flucht vor etwas“, sagt sie fast trotzig, während sie zu einer Sufi-Schule pilgert. Und man ahnt: Da lügt sich eine selber an. Und merkt nicht, wieviel die Suche nach dem Selbst mit Exotismus zu tun hat. Regisseur MacKinnon, der 1972 ein halbes Jahr durch Marokko tourte, stellt die alternative Form kolonialen Auftretens dar – und er stellt sie auch bloß, etwa wenn er den Realitätsverlust eines Hippies schildert, der Julia ein Stück des Weges begleitet. Ausgemergelt und von der Sonne gezeichnet, wirft sich der junge Pilger in Jesus-Pose.

On the road zu sein, am Abgrund entlangzuschlittern, scheint ein männliches Privileg: Mit den beiden Kindern im Schlepptau wird Julia in eine ganz andere Position verwiesen als die Abenteurer, die außer für sich selbst keine Verantwortung tragen müssen. So gern die junge Frau ein echter Hippie wäre, so sehr sorgt MacKinnon dafür, daß sie sich um etwas anderes kümmern muß. Beispielsweise darum, daß der Nachwuchs zur Schule geht. So hat „Marrakesch“ sein zentrales Thema gefunden: die Dialektik aus elterlichem Aufbegehren und jugendlicher Anpassung. Während sich die Mutter gegen die eigenen Eltern auflehnt, indem sie ziellos durch Nordafrika tourt, protestiert die Tochter, indem sie eine saubere Schuluniform fordert.

Trotz allem legt es „Marrakesch“ nicht auf eine Abrechnung an. Die Zeit des Protests und des Eskapismus wird kritisch durchleuchtet, postum für wertlos erklärt wird sie nicht. Das Problem liegt anderswo. Zwar mag MacKinnon den Exotismus seiner Hauptfigur bloßstellen, seinem eigenen huldigt er dafür um so schrankenloser. Da weidet sich die Kamera an der körperlichen Präsenz des Geliebten, da leuchten die Farben des Landes und der Gewänder, lockt die geheimnisvolle Enge des Bazars, verführen Akrobatik, Lichtreflexe, Trancezustände, Musik. Ein Bild von Marokko ersteht, wie es den feuchten Träumen vom Orient nicht trefflicher entspringen könnte. Cristina Nord

„Marrakesch“, Regie: Gillies MacKinnon, mit Kate Winslet, Sad Taghmaoui, Bella Riza, Carrie Mullan u. a., GB/ Fr. 1998, 98 Min

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