In Afrika betrauert bald jede Familie einen Aidstoten

Die sich ausbreitende Aidsepidemie in Afrika wirkt wie ein schleichender Völkermord. Präventive Regierungsprogramme bleiben chancenlos. In diesem Jahr werden vermutlich über drei Millionen infizierte Menschen ihr Leben lassen  ■   Von Dominic Johnson

Das große Sterben hat begonnen. 2,6 Millionen Menschen sind im Jahr 1998 weltweit an Aids gestorben; die globale Gesamtzahl der bisherigen Aidstoten stieg damit auf 12 Millionen. Kaum veröffentlicht, sind diese Zahlen des im November vorgestellten Welt-Aidsberichts der UNO schon veraltet – in diesem Jahr werden vermutlich über drei Millionen mit der Seuche infizierte Menschen ihr Leben lassen.

„Wir erleben einen Wendepunkt in der Weltgeschichte“, fasst Peter Piot, Direktor des Aidsprogramms derUNO, die Situation im Vorwort des Berichts zusammen. „Aids wirft ein Schlaglicht auf alle Stärken und Schwächen der Menschheit: Unsere Verletzlichkeit und unsere Ängste, unsere Kraft und unser Mitgefühl.“ Er warnt: „Es kommt noch schlimmer. Jedes Jahr schlägt Aids eine neue Richtung ein.“

Es geht längst nicht mehr um Risikogruppen, es geht auch längst nicht mehr nur um Prävention. Es geht um die Frage, wie eine Gesellschaft funktionieren kann, in der statistisch gesehen jede Familie Aidsinfizierte zählt – und in der statistisch gesehen jede Familie bald Aidstote betrauern wird. Diesen Zustand haben zahlreiche afrikanische Länder bereits erreicht. Seine Auswirkungen sind die eines lautlosen Völkermordes.

Ähnlich wie in Zeiten von Krieg und Genozid die Frage von Schuld und Unschuld, die Trennung von Tätern und Opfern viele Familien zerreißt, wirft die Alltäglichkeit von Aids in Afrika Fragen auf, die Gesellschaften überfordern können: Probleme von Sexualität und zwischenmenschlicher Ehrlichkeit, der Übernahme von Verantwortung und des Umgangs mit persönlichen Krisen. Aids revolutioniert die Gesellschaft damit stärker und tiefer, als es je für möglich gehalten wurde.

Die Versuche von Regierungen, diesem Wandel Rechnung zu tragen, wirken recht hilflos. Das beste Präventionsprogramm der Welt kann nicht verhindern, dass die bereits Infizierten sterben, wenn das Gesundheitswesen nicht in der Lage ist, sie zu pflegen. Und Statistik kann grausam sein. Wo der Anteil von HIV-Infizierten an der Gesamtbevölkerung sinkt, liegt dies möglicherweise nur daran, dass mehr Aids-Kranke sterben als neue dazukommen. Ob das ein Erfolg ist, können die Betroffenen nur selber beurteilen.

Viele Regierungen haben sehr lange gebraucht, um Aids überhaupt als Problem zu erkennen. In Kenia und Tansania sprachen die Präsidenten das Thema erst dieses Jahr offen an. Simbabwe, eines der am schwersten von Aids betroffenen Länder, führte wegen der zunehmenden Belastung des Gesundheitswesens durch die Behandlung von Aids-bedingten Krankheiten eine Aids-Abgabe von drei Prozent auf alle Einkommen ein. Aber ob im notorisch korrupten politischen System Simbabwes dieses Geld den Bedürftigen zugute kommt?

Die UNO weist darauf hin, dass neben Afrika mehrere Weltregionen hohe Raten der Aids-Ausbreitung aufweisen: Indien, Osteuropa und die frühere Sowjetunion. Aber noch passieren 90 Prozent der weltweiten Neuinfektionen in Afrika. Das wird auch so bleiben. Die schnellste Ausbreitung von Aids geschieht Studien zufolge dort, wo fünf Jahre zuvor Bürgerkriege tobten. Und Afrikas Kriege haben in den letzten fünf Jahren an Heftigkeit zugenommen.

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