Im Rauschzustand der kollektiven Rache

Anders als im ersten Tschetschenienkrieg unterstützen heute auch Russlands Demokraten die Militäraktion. Der Grund sind fehlende Visionen und die Angst vor Verlusten bei den Wahlen  ■   Aus Moskau Klaus-Helge Donath

Die Elite hat sich mit Blut besudelt. Nur wenige haben Verantwortung gezeigt und ihr Gewissen sprechen lassen

Die Leute sind das Chaos und die ständigen Niederlagen leid“, resümiert Juri Lewada, Russlands bekanntester Meinungsforscher. Seit Sommer hat sich die Stimmung in der Intelligenzija und in Künstlerkreisen deutlich verändert. Waren damals drei Viertel der gebildeteren Schichten noch gegen jeden Krieg, befürworten jetzt 77 Prozent der Befragten in Moskau und St. Petersburg den Waffengang in Tschetschenien.

Unterdessen avanciert Premierminister Wladimir Putin, oberster Kriegsmeister, zum Shootingstar. Ist Putin Russlands Pinochet in spe? „Die Intelligenzija träumt von einer starken Hand“, meint der ehemalige Leiter des USA-Institutes Georgi Arbatow. Indes, typisch für die romantisch veranlagte Intelligenz: „Was die Hand tut und ob es richtig ist, darauf schaut man erst im Nachhinein.“

Wer zur Zeit in Russland vor den Auswirkungen des Krieges warnt, gehört zu den einsamen Rufern in der Wüste. Die moderaten Stimmen werden überhört, übertönt oder im kaukasischen Siegesrausch gleich des Hochverrats geziehen. Von den ehemaligen Demokraten wagte nur der Jabloko-Vorsitzende Grigori Jawlinski, öffentlich gegen das Blutbad an der tschetschenischen Zivilbevölkerung die Stimme zu erheben. Jabloko ist die einzige Partei Russlands, die den Namen verdient und den Vorstellungen innerparteilicher Demokratie im Westen halbwegs nahe kommt. Vor dem Hintergrund des erfolgreichen russischen Vormarsches schlug Jawlinski vor, die Kriegshandlungen 30 Tage auszusetzen, um der Bevölkerung Zeit zur Flucht zu geben. Gleichzeitig forderte er den tschetschenischen Präsidenten Aslan Maskhadow auf, die „Terroristen“ auszuliefern, den Entführungen einen Riegel vorzuschieben und alle paramilitärischen Einheiten zu entwaffnen.

Bedingungen, die der Präsident beim besten Willen nicht hätte erfüllen können. Davon machte Jabloko aber die Aufnahme von Friedensverhandlungen abhängig. Sollte es nicht gelingen, gab auch Jawlinski Grosny zum Abschuss frei. Ein Trick, der die gemäßigten Kräfte in der Wählerschaft ruhig stimmen und das Image der Partei im Westen bewahren sollte. Die Fundamentalopposition verlangte zudem, sich vom Vorgehen der Macht abzuheben.

Wie wenig sich die Positionen letztlich unterscheiden, belegen Aussagen Sergej Stepaschins. Der im August von Jelzin geschasste Premier kandidiert bei den Dumawahlen auf Listenplatz zwei der Partei. „Der Krieg muss zu Ende geführt werden, man darf die Kriegsmaschinerie jetzt nicht anhalten und die gleichen Fehler begehen wie 1994.“ Im ersten Tschetschenienkrieg gehörte Stepaschin zur finsteren Kriegspartei des Kremls. In den Wahlwerbespots schwingt sich der sanfte General unterdessen zum Anwalt des militärisch-industriellen Komplexes auf. Im Krieg von 1994-96 profilierte sich die Partei als Gewissen der Nation, sie organisierte Demonstrationen, während der Jabloko-Abgeordnete Viktor Scheinis tagelang in den Kellern des bombardierten Grosny saß.

1999 hat Russland keine moralischen Instanzen mehr. Die gesamte politische Elite, von den Verantwortungsträgern bis hin zur Opposition, besitzt keine Zukunftsvisionen. Daher verfällt sie auf den alten Reflex, die Rolle des Imperiums und Russlands Geltung als Großmacht in den Vordergrund zu schieben. Universelle Rechte gelten nun wieder als ein wesensfremder Westimport.

Der einzige Mahner von Gewicht ist Menschenrechtler Sergej Kowaljow. Auch er verbrachte den ersten Bombensturm 1994 mit Scheinis in Grosny. Aus Protest gegen den Krieg legte er wenig später sein Amt als Menschenrechtsbeauftragter Präsident Jelzins nieder. Seine Warnungen werden im Ausland publiziert, die meisten russischen Medien meiden ihn. Kowaljows Analyse des Kaukasuskonfliktes verschweigt nicht die Schuld der Tschetschenen, die den Boden für den russischen Rachefeldzug bereitet haben. Seine Kritik an Russland macht er an der verlogenen Regierungskampagne fest, die vorgibt, eine Antiterrorismusmaßnahme zu lancieren, tatsächlich aber einen Vernichtungsfeldzug gegen die Zivilbevölkerung führt. „Die auf höchster Ebene wiederholten Lügen sind nicht nur widerlich, sie sind auch gefährlich. Es sind Symptome, die wir aus unserer jüngsten Vergangenheit kennen“, sagt Kowaljow.

Kowaljow wundert sich über den fehlenden Weitblick der liberalen Politiker. Merken sie nicht, dass sich die Reaktion auch damit für die Reformen rächen will? Beschämt stellt er fest, „dass sich sogar führende Figuren der demokratischen Bewegung heute öffentlich mit der Reaktion solidarisieren, wohl um bei den Wahlen keine Stimmen zu verlieren“.

Menschenrechtsorganisationen wie die Helsinkigruppe, der Glasnostfonds und Jelena Bonner, die Witwe Andrej Sacharows, haben im November einen Aufruf unterzeichnet, der das Ende der Kampfmaßnahmen und die Dislozierung von Blauhelmen der Vereinten Nationen in Tschetschenien verlangt. Sie befinden sich Lichtjahre entfernt vom Massenbewusstsein, das sich an der kollektiven Rache berauscht. Ihr Hilferuf verhallt. Sie müssen gar befürchten, eines Tages selbst Opfer tätlicher Angriffe zu werden.

Die Nesawissimaja Gaseta, einst liberales Blatt, heute Sprachrohr des Oligarchen und Vertrauten der Jelzin-Familie Boris Beresowski, schmähte das Engagement für Menschlichkeit: „Worte und Taten vieler Menschenrechtler in unserem Land decken sich mit der offiziellen Haltung westlicher Staaten.“ Für das Land sollte das ein Grund zur Freude sein. Stattdessen werden Kowaljow und andere beschuldigt, gegen die ureigenen Interessen Russlands zu verstoßen. Denunzianten sind in der Presse wieder gefragt.

Außenminister Igor Iwanow soll sogar beim Duma-Chef interveniert haben, gegen die „volksfeindlichen“ Äußerungen des Abgeordneten Boris Borowoj Maßnahmen zu ergreifen, der im US-Kongress seine Sicht zum Tschetschenien-Krieg dargelegt hatte.

Hysterie, Machtpoker oder Abkehr von der Zukunft? Die politische Elite hat sich mit Blut besudelt. Nur wenige haben Verantwortung gezeigt und ihr Gewissen sprechen lassen. Der Gouverneur von Samara, Konstantin Titow, warnte vor der Unverhältnismäßigkeit des Kriegszuges und bot den tschetschenischen Opfern ärztliche Versorgung an. Offenkundig hat Moskau die Hilfe untersagt. Unermüdlich treibt unterdessen der Präsident Inguschetiens, das die Hauptlast der Flüchtlingskatastrophe trägt, Aufklärungsarbeit. Ruslan Auschew ist längst zu einem Synonym für Nestbeschmutzer geworden.

Auch die Lichtgestalt des demokratischen Umbruchs, Anatoli Tschubais, heult mit den Wölfen. Er zieh Jawlinski einen „Verräter“ und knipste als Chef des russischen Elektrizitätsmonopolisten den Tschetschenen das Licht aus ...