: Erklärt Brussig
■ Am kürzeren Ende der DDR: Wolfgang Thierse sprach über Ostalgie und Ironie
Thomas Brussig las im Foyer des Willy-Brandt-Hauses aus seinem Buch „Am kürzeren Ende der Sonnenallee“. Die meisten Leute hatten den dazugehörigen Film gesehen und waren nun gekommen, um den Autor zu sehen und zu hören. Und vielleicht warteten einige sogar tatsächlich auf das an die Lesung anschließende, sagen wir: Ereignis: Wolfgang Thierse unterhält sich mit Brussig über Ironie und Ostalgie.
Brussig las aus seinem Buch, gut gelaunt und berlinernd wie immer, und dann kam Thierse. Vielmehr, er enterte mit Wucht das Podium, platzierte sich neben Brussig und überschüttete ihn nach kurzem Geplänkel mit einem Vortrag: Brussigs Humor stelle ein „kopfschüttelndes Innewerden“ dar, Brussig praktiziere einen „heiteren Abschied“ von der DDR, lache sie also gewissermaßen „hinweg“ und sei überhaupt ein Tausendsassa.
Er selbst, Thierse, habe ja dieses Brussig-Buch noch nicht gelesen, nur seine Frau, und er habe sie voller Neid lachen hören. Doch nun könne er ja schmökern, und da seine Zeit beschränkt sei, werde er es „heimlich lesen, wenn ich im Parlament präsidiere“. Hihi. Brussig ließ sich zunächst nicht auf ein derart um Publikum buhlendes Witzigkeits-Niveau herabziehen. Im Gegenteil sei er sich völlig bewusst, dass seine Geschichten durchaus ins „Zentrum einer Stimmung“ gingen und die so genannte Ostalgie bedienen würden. Jetzt, nach zehn Jahren, sei die DDR freigegeben zur Verklärung. Auch fände sich in der Erinnerung durchaus nicht nur Negatives. Doch seien seine Geschichten, so Brussig, etwas anderes als die vom MDR praktizierte Ostalgie. Das Unterhaltungsprogramm des Senders wisse nichts von dem Gefühl, das es „von vorn bis hinten zum Kotzen war, man hat sich aber prächtig amüsiert hat“.
Diese Ost-Sicht war interessant und okay. Da kam Thierse von rechts: erzählte noch einmal von der befreienden Funktion des Brussigschen Humors und meinte, Brussig mitsamt der restlichen DDR in Haft nehmen und hernach unter einem „Wir“ subsummieren zu dürfen. Am Ende also saß Brussig in einem Boot mit Carsten Speck und Carmen Nebel. Alle Versuche des Schriftstellers, dieser Vereinnahmung zu entgehen, misslangen. Ein Thierse kann nicht anders, als in Ossis und Deutschen zu denken. Außerhalb des Begriffes „Volk“ ist für Thierse offensichtlich keine Kollektiverfahrung machbar.
Brussig brach schließlich unter Thierses Ansturm von Volksmännigkeit zusammen und stimmte ein in das Hohe Lied der Menschlichkeit. Der Abend, der bei Brussigs Lesung mit einer interessanten Konzeption von Individualität im System begann, endete in zwangsversöhnender Volkstümlichkeit. Das Publikums klatschte begeistert. Jörg Sundermeier
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