: Globalisierung hilft nur Reichen“
Warum protestieren in Seattle so viele gegen die WTO? Die Mehrheit der Amerikaner fürchtet nichts weniger als den Verlust ihrer Souveränität ■ Aus Washington Peter Tautfest
Wenn es je ein Bündnis von Arbeitern, Bauern und Studenten und je eine internationalistische Bewegung gegeben hat, dann ist es die Koalition von Gegnern eines liberalisierten Welthandels in Amerika. Es fehlten nur noch die roten Fahnen und Sprechchöre wie „Hoch die internationale Solidarität!“, und in Seattle wäre Realität geworden, wovon die Demonstranten in Berlin und Paris in den 60er-Jahren nur geträumt hatten.
Den amerikanischen Gewerkschaften, sonst nicht gerade für ihr internationales Engagement bekannt, scheint heute nichts wichtiger zu sein als die Rechte, Arbeitsbedingungen und Löhne von Arbeitern in Korea und China. Umweltbewegung und Gewerkschaften, sonst eher auf skeptischer Distanz zueinander, haken sich in Seattle unter, um WTO-Delegierten den Zugang zu ihren Konferenzsälen zu verwehren.
Um die ungewöhnliche Koalition und emotionale Reaktion auf eine Konferenz zu handelspolitischen Fragen zu verstehen, die noch vor ein paar Jahren in der breiteren Öffentlichkeit kaum Beachtung gefunden hätte, muss man an den Anfang der 90er-Jahre zurückgehen. Für Amerikas Arbeitnehmer begannen die 90er mit dem Menetekel der Massenentlassung. Mitte der 90er las sich die Bilanz so: 123.000 Entlassungen bei AT & T, 18.000 bei Delta Airlines, 16.800 bei Eastman Kodak. Während General Motors in den 70er-Jahren eine halbe Million Arbeiter und Angestellte beschäftigte, wurden Mitte der 90er-Jahre die gleiche Zahl von Autos mit 315.000 Paar Händen hergestellt. Insgesamt gingen zwischen 1979 und 1995 in Amerika 43 Millionen industrielle Arbeitsplätze verloren – das sind mehr als die Gesamtzahl der Bewohner der Großräume New York, Los Angeles, Chicago, Detroit, Boston, Washington, Miami, Denver und Seattle.
Nicht nur „Blue Collar Worker“ – die Arbeiter im Blaumann – verloren ihre Arbeit, sondern auch Angestellte im mittleren und sogar im leitenden Management. Die Massenentlassungen der frühen 90er-Jahre geschahen im Namen internationaler Wettbewerbsfähigkeit. Damals wurde auch der Begriff Globalisierung erstmals zum geflügelten Wort. Kommentatoren wie William Pfaff, Anthony Lewis und Richard Cohen – das sind die Theo Sommers und Josef Joffes von Amerika – und sogar der erste Arbeitsminister der Clinton-Regierung, Robert Reich, warnten, das Ausmaß der Entlassungen gefährde den gesellschaftlichen Konsens und zerreiße das soziale Gewebe der Nation – so notwendig sie im Dienste der Restrukturierung veralteter Unternehmen auch gewesen sein mögen. Inzwischen sind mehr neue Arbeitsplätze entstanden als verloren gegangen sind, viele allerdings in Mittelstand, Kleinstbetrieben und im Servicebereich, wo niedrigere Löhne gezahlt werden und Selbstausbeutung herrscht.
Darüber hinaus hinterließen die Massenentlassungen ein tiefes Gefühl der Unsicherheit bei Angestellten und Arbeitern. Dass in der gleichen Zeit die Gehälter von Spitzenmanagern vom 35fachen eines durchschnittlichen Facharbeiterlohns auf das 187fache gestiegen sind, hat den Eindruck verstärkt, die Globalisierung – was immer das genau sein mag – nütze nur den Reichen und schade dem „einfachen Mann auf der Straße“. 57 Prozent der Amerikaner denken so. Dieses schwärende Ressentiment verband sich mit den Ideen der in Amerika starken Umweltbewegung. Die Tatsache, dass eine anonyme Behörde von ungewählten Funktionären nationale oder lokale Gesetze zum Umwelt- oder Naturschutz aushebeln kann, mobilisierte ein weiteres amerikanisches Ressentiment: die Angst vor dem Verlust von Souveränität.
Der Ökonomieprofessor und wirtschaftswissenschaftliche Ketzer Paul Krugman hat die WTO-Skepsis als die linke Version der paranoiden UNO-Feindlichkeit der amerikanischen rechten Milizbewegung bezeichnet. Richtig daran ist, dass in Amerika jede Maßnahme, die als Einschränkung der nationalen oder – schlimmer noch – der lokalen Souveränität dargestellt werden kann, sich zur Mobilisierung von Widerstand eignet. Nach einer Untersuchung der Georgetown University kollidieren in Kalifornien allein 95 lokale Gesetze oder Verordnungen mit den Regeln des Welthandels. Das betrifft bundesstaatliche Verordnungen wie das kalifornische Verbot, dem Benzin die Chemikalie Methenex beizumengen, weil sie das Grundwasser beeinträchtigt. Das betrifft aber auch lokale Verordnungen, die der Stadt oder Gemeinde bei Beschaffung und Einkauf vorschreibt, ortsansässige Hersteller bzw. Betriebe zu bevorzugen, die von Frauen oder Minoritäten geführt werden.
So umstritten solche lokalen Verordnungen sein mögen, sie zu erlassen gilt im föderalistischen Amerika als heiliges Recht unterer Gebietskörperschaften und als sakrosankter Bestandteil der Gewaltenteilung. Wer daran rührt, trifft den Nerv des amerikanischen Demokratieverständnisses.
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