: „Kyrill“ hinterlässt seine Spuren
Er war der stärkste Sturm in Deutschland – seit „Lothar“ an Weihnachten 1999. „Kyrill“ ist aber der erste, der nicht nur in jedem Winkel der Republik Schäden anrichten konnte. Der Orkan erreichte eine Spitzengeschwindigkeit von 225 Stundenkilometern am Schweizer Aletschgletscher, in Deutschland blies er am heftigsten auf dem bayerischen Wendelstein mit 202 Stundenkilometern.
Am schwersten betroffen waren die Nordrhein-Westfalen: Hier wurden fünf Menschen von entwurzelten Bäumen erschlagen, bundesweit kamen elf Personen ums Leben. Hunderte wurden von herabstürzenden Gebäudeteilen und Ästen verletzt. Die Bahn musste ihre Fahrgäste bundesweit stehen lassen. In NRW standen die Regional- und Fernzüge fast 24 Stunden lang still. Einige Strecken werden erst heute oder am Sonntag wieder befahrbar sein. Zur Entschädigung gab es ein paar Kaffee- und Taxigutscheine. In Aachen wurde Reisende in einer Jugendherberge, in Münster in einem alten Bunker untergebracht.
Anspruch auf Entschädigung haben die KundInnen keine – sagt die Bahn. Schließlich sei ein Orkan ein Fall von „höherer Gewalt“. Sie wolle aber Kulanz zeigen und jeden Fall prüfen.
Auch die kommenden Tage werden Züge verspätet fahren. Den endgültigen Schaden kann der Konzern erst in einigen Tagen bekannt geben. Der beschädigte Berliner Hauptbahnhof konnte gestern Mittag wieder geöffnet werden. Der Orkan hatte einen drei Tonnen schweren Stahlträger abgerissen und in die Tiefe gestürzt. Verletzt wurde niemand. Das Gebäude ist erst vor acht Monaten eröffnet worden. Bahnchef Mehdorn sagte: „Wir sind sehr stolz auf den neuen Hauptbahnhof und werden alles tun, dass so etwas nie wieder passiert.“
Auch historische Gebäude mussten leiden. An der Lübecker Marienkirche riss der Sturm zehn Quadratmeter Kupferabdeckung los und klappte sie hoch wie den Deckel einer Konservendose. Auch das Gedenkstättenarchiv des KZ Sachsenhausen wurde beschädigt. Etwa ein Drittel des in den 1990er-Jahren sanierten Archivgebäudes wurde vom Sturm abgedeckt. In ihm lagern Hinterlassenschaften der Häftlinge des ehemaligen Konzentrationslagers. In der Lutherstadt Wittenberg zog Kyrill eine Spur der Verwüstung. Auch die zum Weltkulturerbe der Unesco gehörende Schlosskirche wurde beschädigt.
Die Versicherungsunternehmen in Deutschland rechnen mit Kosten von rund einer Milliarde Euro. Es gibt allerdings auch Gewinner des Sturms: Naturkatastrophen sind gut für die Konjunktur. Die notwendigen Investitionen in den Wiederaufbau kurbeln die Wirtschaft an. Sie werden auch bei der Berechnung des Bruttoinlandsproduktes berücksichtigt. Von Reparaturarbeiten profitieren besonders das Handwerk und die Bauwirtschaft. Forscher des Ifo-Instituts in Dresden haben am Beispiel des Hochwassers 2002 bewiesen, wie profitabel solche Unglücke sein können: Die enormen Investitionen haben das Bruttoinlandsprodukt des Freistaats Sachen mehr als zwei Jahre lang deutlich angehoben. JOE
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