: „Sie haben sich selbst bedient“
Wie konnte sich Istanbul in den letzten 50 Jahren aus einer schrumpfenden Stadt in eine boomende Megalopolis verwandeln? Ein Gespräch mit dem Urbanisten Orhan Esen über selbstbestimmte Stadtentwicklung und die Rolle der Gecekondu-Siedlungen
INTERVIEW KIRSTEN RIESSELMANN
taz: Herr Esen, Istanbul ist eine Stadt, die sich immer wieder unglaublich wandlungsfähig gezeigt hat: Seit über 2.000 Jahren Handelsmetropole, in den 1920er Jahren dann der jähe Absturz zur schrumpfenden Stadt. Wie hat die Stadt es in nur 50 Jahren geschafft, wieder zu einer boomenden Megalopolis mit 12 Millionen Einwohnern zu werden?
Orhan Esen: Ich möchte eine materielle Geschichte der Stadt Istanbul erzählen. Und dafür ist eines zentral: Das erneut wachsende Istanbul, in das nach dem Zweiten Weltkrieg Millionen von Migranten aus den ländlichen Regionen Anatoliens strömten, wurde zunächst von Kleinakteuren gemacht. Das wird heute, Jahrzehnte später, von den neuen Eliten Istanbuls gern als grauenvolle Mutation ihrer ehrwürdigen Stadt, als ein urbanistischer Unfall dargestellt. Ich versuche das aber objektiv zu betrachten. Die von Kleinakteuren massenhaft selbst gemachte Produktion von städtischem Raum, die seit den Fünfzigern den Großteil des Stadtwachstums hervorgebracht hat, ist in erster Linie eine Erfahrungsressource. Und mir ist vor allem daran gelegen, diese Ressource gerade heute, wo sich die Stadt erneut fundamental wandelt, nutzbar zu machen.
Das Ende des Osmanischen Reiches, die Republikgründung 1923, die neue Hauptstadt Ankara, der Rückgang des Handels mit dem revolutionären Sowjetrussland, die Weltwirtschaftskrise, die damit verbundene Abwanderung der meisten Ausländer – die Bevölkerung Istanbuls geht nach dem Ersten Weltkrieg innerhalb eines Jahrzehnts von 1,5 Millionen auf 700.000 zurück. Wie konnte denn eine derart herabgewirtschaftete Stadt für Migranten aus den ländlichen Gebieten der Osttürkei attraktiv sein?
Das war das Resultat einer erfolgreichen Bildungs- und Gesundheitspolitik. Die Kindersterblichkeit auf dem Land nahm ab – was zu einer Bevölkerungsexplosion führte. In der Türkei fand in den Dreißigern und Vierzigern mit 150 Jahren Verspätung eine ähnliche demografische Revolution statt wie im Europa des frühen 19. Jahrhunderts – nur dass die Europäer in Richtung Amerika und die Türken in Richtung Istanbul auswanderten. Attraktiv wurde Istanbul für die Bauern dann vor allem deshalb, weil neureiche Kriegsgewinnler in die Industrie investierten und durch Geldwäsche eine Menge neuer Arbeitsplätze schufen.
Wie versuchte der Staat, die Migrationswelle zu regeln?
Der Staat war damals nur mit einer einzigen Frage beschäftigt: Wie können wir aus den Anfängen der Industrialisierung in Europa lernen und das Gespenst des Kommunismus verhindern? Wie können wir uns modernisieren, ohne dass die dadurch entstehenden neuen Klassen in Konflikt miteinander geraten?
Und welche Antwort fand er?
Populismus. Das heißt: die Leute an den gesamtgesellschaftlichen Ressourcen beteiligen. Und als Ressource Nummer eins zählte das Land. Deswegen wird Land den Einwanderermassen Anfang der Fünfziger quasi frei zur Verfügung gestellt.
Und diese Einwanderer bauen dann ihre Siedlungen rund um den Altstadtkern, die unter dem Namen „Gecekondu“ („über Nacht gebaut“) bekannt werden – eine für viele Urbanisten bis heute faszinierende Erfindung. Immer wieder hört man davon, dass es in der Türkei ein Gesetz gibt, das sagt: Wer es schafft, in einer Nacht eine Behausung mit Dach drauf zu errichten, dem fällt der darunter liegende Grund und Boden legal zu.
Solche Gesetze gab es nur in der Vormoderne. Wir müssen unterscheiden zwischen legal und legitim. Gecekondus waren immer illegal, aber legitim. Die Gecekondu-Leute besetzten schlicht staatliches Land, was in den meisten Fällen toleriert wurde. Die Politik hat damals intuitiv erkannt: Eigentum ist das beste Mittel gegen Kommunismus. Die Arbeiterkaserne wurde nie zu einer ernsthaften Alternative: Mein Haus, mein Salatgarten, mein Obstbaum, meine Ziege, meine Nachbarn – das ist die Struktur, mit der man sich identifiziert. Da ist kaum eine Änderung kleinbäuerlichen Bewusstseins zu erwarten. Wenn, dann höchstens hin zum Kleinbürgerlichen. Auch die Gewerkschaften oder die linken Bewegungen konnten auf dieser materiellen Basis langfristig nichts machen.
Kann man diese Ansammlungen von Gärten und selbst gebastelten Häuschen denn wirklich als „Stadt“ bezeichnen?
Stimmt, eine Stadt ist mehr als die Summe der Behausungen. Sie ist auch Straße, öffentlicher Raum, Grünanlage, Platz, Schule, Krankenhaus. Das alles entsteht in den Gecekondus aber zunächst nur auf minimaler Ebene. Der Staat zahlt dafür nicht, denn er hat ja keinen Kaufpreis für das Land verlangt, den er jetzt in Infrastrukturmaßnahmen stecken könnte. Diese Form der Landnahme unterschlug schlichtweg den Preis der Urbanisierung. Es findet eine Urbanisierung zum Nulltarif statt.
Die neuen Bewohner bauen also ihre eigene Stadt, ohne jeden Bebauungsplan, ohne größere administrative Eingriffe. Dabei muss eine einerseits sehr bedürfnisorientierte, andererseits aber auch sehr wilde Struktur herausgekommen sein. Waren Gecekondus Slums?
Nein, das waren sie nie. Gecekondus waren immer intakte soziale Umgebungen, Nachbauten der dörflichen Strukturen, die die Einwanderer kannten. Die Haushalte waren immer eingebettet in ein vertrautes Umfeld, und Jobs gab es ja auch. Jedes Gecekondu entstand in direkter Anbindung an ein Industriegebiet, die Leute gingen zu Fuß zur Arbeit. Darüber hinaus fühlten sich die Gecekondu-Bewohner stark, und sie begannen schnell, für Rechte zu kämpfen: Wasser, Strom, Müllabfuhr. Das Gecekondu als Gartenstadt, als Schwelle zwischen Stadt und Land, war eine milde Lösung in Sachen Urbanisierung der Ersteinwanderer.
Zumindest landeten die Neu-Städter nicht in so etwas wie der Berliner Mietskaserne. Aber das Häusle, von dem ein Schwabe träumt, war ein Gecekondu doch auch nicht!
Nein, qualitativ war die Bausubstanz natürlich sehr dürftig – nichts, was sich der deutsche Mittelstand heute unter einem Eigenheim vorstellt. Entstanden ist in Istanbul das, was wir als „Self Service City“ bezeichnet haben: Die Bewohner haben sich am Stadtraum selber bedient und ihr Leben kollektiv organisiert. In diesem Selbstbedienungsladen sparte der Staat Urbanisierungskosten und der Industrielle Lohnkosten.
Und wie ging es weiter mit diesem eher ländlichen Stadtentwicklungs-Erfolgsmodell?
Anfang der Achtzigerjahre – der Zustrom in die Stadt hält weiter an, mittlerweile sind 5 Millionen Menschen da – kommen Überlegungen auf, wie man die bestehenden Strukturen nachverdichten kann. Die Kapazität des bereits bebauten Raums soll erhöht werden. Deswegen gibt es „Gecekondu-Amnestien“, die Gecekondu-Bewohner werden legalisiert und bekommen Grundbucheinträge. In Kooperation mit kleinen Bauunternehmern bauen sie ihre Einfamilienhäuser zu Sechs- bis Zehn-Parteien-Apartmenthäuser aus. Den neu entstehenden Wohnraum vermieten oder verkaufen sie weiter.
Immobilien werden also zum ersten Mal als Wertschöpfungsgegenstände begriffen.
Genau. Und das ruft natürlich Begehrlichkeiten der Ober- und Mittelschichten auf den Plan, die sehen, wie die Kleinakteure in den entstehenden Post-Gecekondus ihre Häuser zu Kapital machen. Erst jetzt wird den alten Eliten klar, dass Spekulation und Immobilienhandel geldwert sind. Land ist nun aber knapp. An diesem Punkt angelangt, kippt das Quantitätsdenken in Bezug auf Wohnraum in ein Qualitätsdenken. Istanbul beginnt, Geld mit der Schaffung bewusster qualitativer Differenzen zu verdienen. Bis in die Achtziger hinein hat der politische Populismus es geschafft, die Leute glauben zu machen, dass „wir eine kohärente Masse ohne Klassen und Privilegien sind“. Allerdings entstanden in der Türkei in den Neunzigern auf der Ebene der Einkommensverteilung fast brasilianische Verhältnisse. Aber jetzt steht es nicht mehr auf der obersten politischen Agenda, die Leute weiter an ein Gemeinsames glauben zu lassen.
Warum nicht?
Das nennt sich Neoliberalismus. Du bist mehr wert, wenn du mehr verdienst und dir mehr leisten kannst. Lebensstil wird wichtiger. Die türkische Gesellschaft, die sich lange homogen glaubte, ist in Auflösung begriffen. Und hier kommt das neue Erdbebengesetz ins Spiel.
Wie bitte?
Experten sagen, dass mit 60-prozentiger Wahrscheinlichkeit bis zum Jahr 2032 ein Erdbeben der Stärke 7,0 der Richterskala oder stärker Istanbul heimsuchen wird. Das letzte, 1999, forderte 40.000 Todesopfer. Beim nächsten soll das Epizentrum jedoch deutlich näher an die Stadt heranrücken. Das wäre beim Zustand der jetzigen Bausubstanz eine nationale Katastrophe. Es leben mindestens 12 Millionen Menschen in der Stadt, 17 Prozent aller Türken, und über 50 Prozent der türkischen Industrie sitzt hier. Die Politiker wollen den Stadtumbau so schnell wie möglich vorantreiben, mit dem eigentlich sehr guten Grund der Erdbebensicherung als Vorwand. Das neue „urbane Transformationsgesetz“, das beide Parlamentsparteien verabschieden werden, macht es möglich, ganze Viertel zu Sanierungsgebieten zu erklären, um sie en bloc abzureißen und neu aufzubauen.
Und das sollen die Kleineigentümer nun selbst leisten?
Nein. Ziel des Gesetzes ist es, mit der Stadtproduktion durch kleine Akteure Schluss zu machen. Die Sanierungspläne schaffen große Flächen, das, was sich die neuen Großakteure – Bau-, Finanz- und Versicherungswirtschaft – wünschen. Diese Akteure werden die Neubebauung betreiben, die Kleinen werden sich ihren Wohnraum zurückkaufen müssen. Der Preis für die Urbanisierung Istanbuls wird also jetzt nachträglich bezahlt. Und nicht alle werden ihn zahlen können. Die Einwohner werden ihrer Leistung entsprechend neu platziert.
Das Erdbebengesetz als Gottesgeschenk für die Wirtschaft.
Ja, die „Self Service City“ wird zu einer „City served“ – der urbane Raum wird den Leuten jetzt als fertiges Produkt zu einem bestimmten Preis angeboten. Die Frage ist nur: Wird das Preis-Leistungs-Verhältnis stimmen? Und werden die Leute das neue Wohnumfeld mitgestalten können? Istanbul war immer eine sehr inklusive Stadt – jetzt aber will die Politik die Stadt exklusiv machen. Die Betroffenen müssen sich an diesem Punkt an das erinnern, was sie aus der Periode der Selbstbedienungsstadt mitbringen: kollektive Organisation, handwerkliches Know-how, Gestaltungswillen – das Wissen darum, dass sie mal etwas gekonnt haben, was auch jetzt noch in die Arbeit von Architekten und Stadtentwicklern einfließen kann. Kurz: Mir geht es darum, Strategien zu entwickeln, die Erfahrung einer kollektiven Stadtproduktion in den urbanen Transformationsprozess einzuflechten.
Dieses Interview wurde im Rahmen der Konferenz „Public Istanbul“, die am 19./20. 1. an der Bauhaus-Universität in Weimar stattfand, geführt
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