: Die Fabrik der toten Ohren
Krach, Lärm, Radau – Qualitätsprodukte aus den Schweinfurter Schallwerken
Ein riesiges Edelstahlschild verkündet vor dem Werkstor: „Qualitätskrach seit 1890“. Ein Plastiktäfelchen daneben zeigt einen stilisierten Kopf mit Hörschutz. „Das haben uns diese EU-Bürokraten eingebrockt“, sagt Philip Firn. Er ist Pressesprecher der Schweinfurter Schallwerke. Manche nennen ihn auch „Presseschreier“: Firns Stimme übertönt mühelos jedes startende Spaceshuttle. „Warnschilder wegen Lärm! Hier! Dabei dürfen bei uns nur Menschen arbeiten, die von Geburt an taub sind – so wie ich! Haben Sie was gesagt?“
Die Schweinfurter Schallwerke liegen auf der berühmten „grünen Wiese“. Mehrere Hektar Felder und Wälder trennen die Fabrikgebäude von der unterfränkischen Stadt. Das ist auch besser so. Die „Schweineschall“ – so das firmeninterne Kürzel – stellt her, was niemand haben möchte, jedenfalls nicht in der Nachbarschaft: Krach, Lärm, Radau. „Hear. And now“, lautet der aktuelle Slogan der Firma. In einer Werbebroschüre heißt es: „Stille. Ein hohes Gut. Doch wie hoch ist es wirklich? Das wüsste niemand ohne uns!“
Pressesprecher Firn und ich betreten durch eine Schallschutzschleuse die Fertigungshalle – „die Fabrik der toten Ohren“, wie man in Schweinfurt sagt. Firn kritzelt auf einen Zettel: „Kein Ton unter 200 Phon!“ Ich kritzele zurück: „Bei Krach bleib’ ich wach.“ Monumentale akustische Entladungen lassen die Luft in der Halle flirren, den Betonboden beben. Meine Zähne klappern. Firn reicht mir einen weiteren Zettel: „Man liest es bereits in der Bibel – vor Jerichos Mauern haben gezählt nur Dezibel!“ Von den Geräuschvibrationen in der Werkhalle ist seine Handschrift noch wackliger, als es seine Reime sind.
Große Symbolschilder hängen über den Stationen der Fabrikanlage. Dort die Schemazeichnung eines Düsenflugzeugs, da Strichbilder von Motorrädern, Presslufthämmern, Handys, ja sogar von Fingernägeln auf Kreidetafeln. Viele Produktionsmaschinen muten an wie Albträume eines kubistischen Malers, andere erinnern an Streckbänke, eiserne Jungfrauen oder Zahnarztstühle. Viele der Fertigungsanlagen sind in Dampfwolken gehüllt. Denn nirgendwo gedeiht geistloses Geräusch besser als in heißer Luft.
Die Arbeiter stehen in Schutzanzügen neben den Maschinen und füllen Phiolen aus Edelstahl mit einer teerigen Masse, die langsam aus den Apparaten quillt. Es handelt sich um hochkonzentrierten Lärmextrakt. Vorsicht ist geboten: Würde eines der Fläschchen zu Bruch gehen, könnte die Schalldruckwelle einen ausgewachsenen Mann in Stücke reißen.
Firn führt mich durch eine weitere Lärmschleuse zum Verwaltungstrakt. Ich atme tief durch, als das Vibrieren in meinem Körper nachlässt. „Schall-Entropie“, brüllt Firn, „ein elementarer Effekt!“ Ich kann ihm nicht widersprechen. Ich bin froh, ihn überhaupt noch hören zu können. Selbst sein Riesenorgan durchdringt das Pfeifen in meinen Ohren nur schwach. „Was für ein infernalischer Krach“, sage ich, als ich endlich wieder etwas sagen kann. Firn bedankt sich erfreut. „Die Schweinfurter Schallwerke haben es als mittelständischer Betrieb in der globalisierten Welt wirklich nicht leicht. Aber weder Indien noch China können uns gefährlich werden, solange wir Qualität wichtiger nehmen als Quantität.“ Verglichen mit dem, was der Dezibeldestillator „A-380“ erzeuge, sei eine Jahresfertigung „A-Böller“ aus dem Reich der Mitte „nicht mal ein nasser Furz“.
Die Marktnische, in der sich die „Schweineschall“ eingerichtet hat, ist eng, aber Sorgen um den Absatz muss die Firma sich nicht machen. Ob Rasenmäher, Bodenschleifer oder Stichsäge, kein Werkzeug könnte von sich aus so laut sein, wie es klingt. Stets hilft ein Phonfläschchen der Schallwerke nach. Laubbläser zum Beispiel dürfen ohne Aufrüstung aus Schweinfurt gar nicht erst ausgeliefert werden. Extradezibel gibt es sogar für lebende Wesen: „Haben Sie sich nie gefragt“, fragt Firn, „weshalb ausgerechnet die kleinsten Köter den größten Lärm veranstalten? Und woher die Viecher das bloß nehmen? Natürlich von uns!“ Auf meine Gegenfrage, ob die Schallwerke denn auch für Torturen wie Madonna, Monrose, Mariah Carey oder meine Nachbarn im Obergeschoss verantwortlich seien, antwortet Firn bloß: „Tut mir leid, Betriebsgeheimnis!“ Doch er zwinkert ziemlich vielsagend dabei.
Zum Abschied schenkt er mir ein Fläschchen mit der Aufschrift „Reich-Ranicki“. Seit der Großkritiker kaum noch im Fernsehen auftritt, ist der Artikel leider ein Ladenhüter. „Aber wenn Sie mal eine Lesung von Günter Grass besuchen sollten“, sagt Firn, „einfach ein paar Tropfen fallen lassen.“ Das hört sich gut an. KAY SOKOLOWSKY
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