: Vernetzt in Brandenburg
Dezentrale Intelligenzausflüge: In Wolfgang Herrndorfs Erzählungen zieht es die Boheme aufs Land – „Diesseits des Van-Allen-Gürtels“
Es kommt ja nicht gerade alle Tage vor, dass sich ein Schriftsteller als Neonazi präsentiert. Wolfgang Herrndorf aber scheint in seinem neuen Erzählungsband „Diesseits des Van-Allen-Gürtels“ Spaß daran zu haben. Es geht um die Story „Herrlich, diese Übersicht“. Darin reist eine junge Frau aus Berlin zu einer Party irgendwo auf dem Lande im tiefsten Brandenburg. Sie erreicht das Haus, in dem das Fest stattfindet, und schildert ihre ersten Eindrücke: „Im Windfang stehen noch zwei weitere Männer mit kahl rasierten Schädeln, jeder eine Flasche Bier in der Hand. Aus der Tiefe des Hauses kommt ein stampfender Bass.“ Das klingt nach einer Neonaziparty, und doch feiert hier nur ein Teil der Berliner Kulturszene rund um die derzeit unvermeidliche Zentrale Intelligenz Agentur (ZIA), zu der auch Herrndorf gehört. Das Autorenfoto schließlich zeigt Herrndorf, viele Haare hat er nicht auf dem Kopf.
Die ZIA also mal wieder. Ist man von der medialen Dauerpräsenz dieses Multimedia-Brainpools mittlerweile nur noch genervt? Oder ist das so was von zu viel des Guten, dass man den Hype problemlos genießen kann? Herrndorf beantwortet diese Frage auf seine Weise. Und die ist sehr überzeugend, wie die Erzählung mit dem Titel „Zentrale Intelligenz Agentur“ belegt. Wieder geht es aufs Land. Die ZIA lädt zu einem Meeting auf einem abgelegenen Brandenburger Schloss. Und alle, alle kommen. Selbst die, die angeblich niemand dahaben wollte – inklusive Joachim Lottmann und Wiglaf Droste. Es werden Pornos gezeigt, es wird viel getrunken und noch mehr Unfug geredet. Alles ist auf eine offene Art gemischt, sodass insiderische und randständige, liebevolle und bösartige Lesarten möglich sind.
Das ist leichte und schöne Unterhaltung, intelligent erzählt und auch noch mit anderen Storys im Buch durch allerlei Querverbindungen – personell, thematisch oder örtlich – verbunden. Oder, moderner gesagt, vernetzt. Wäre „Diesseits des Van-Allen-Gürtels“ nur im Internet erschienen, so könnten manche der Storys, Protagonisten und Handlungsorte wechselseitig verlinkt werden.
Das leichte, aber nie seichte Geschehen wird immer wieder mit einer unsichtbaren Bedrohung konfrontiert. Drei der sechs Erzählungen spielen in Brandenburg, und in jeder dieser drei Geschichten wird Neonazismus angedeutet, ohne dass es in der Folge auch nur ein Springerstiefel ins Buch schafft. Zuerst denkt man, Herrndorf spiele geschickt mit der weitverbreiteten Vorstellung einer rechtsextremen Dominanz in der Brandenburger Jugendkultur, er nehme Klischees auf und wende sie gegen den, der sie hervorgebracht habe. Dann aber merkt man, wie anschaulich dabei eine Atmosphäre der Angst wird, die ja nicht notwendig auf einer realen Bedrohung beruhen muss.
Der dichteste und beste Text im Band ist die titelgebende Erzählung, mit der Herrndorf 2004 den Kelag-Publikumspreis des Bachmann-Wettbewerbs in Klagenfurt gewann: „Diesseits des Van-Allen-Gürtels“. Der Ich-Erzähler wird an einem heißen Sommertag von einem 13-jährigen Jungen auf der Straße ein wenig geärgert und rächt sich auf die denkbar brutalste Weise. Die Story ist voll grandioser Komik, lässiger Kraft und konzentrierter Desillusionierung.
Aber die anderen Erzählungen können durchaus mithalten, zumal einige von ihnen auf der „Van Allen“-Geschichte aufbauen oder sie anderswo und anderweitig fortschreiben. Damit verhalten sie sich ähnlich wie die ZIA, also wie jenes Kultursystem, das zugleich selbstreferenziell und auswabernd, solitär und multipel ist. Ja, die ZIA ist gut. Herrndorf jedoch ist besser.
MAIK SÖHLER
Wolfgang Herrndorf: „Diesseits des Van-Allen-Gürtels“. Eichborn Berlin, Berlin 2007, 188 Seiten, 17,90 Euro
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