piwik no script img

„Man muss nicht alles auserzählen“

Sie haben ihre Darsteller in einer Hellersdorfer Ganztagesstätte und in einem Kreuzberger Schwimmbad gefunden: Astrid Schult und Bettina Blümner zeigen ihre Filme bei der Berlinale in der Perspektive Deutsches Kino. Ein Gespräch mit den Regisseurinnen über Poesie, Flexibilität und Verantwortung

INTERVIEW DIETMAR KAMMERER

taz: Astrid Schult, Sie porträtieren in „Zirkus is nich“ den Alltag des achtjährigen Dominik aus Berlin-Hellersdorf, der zu viel Verantwortung für sein Alter übernehmen muss, um seiner alleinerziehenden Mutter zu helfen. Wie haben Sie Ihren Hauptdarsteller gefunden?

Schult: Über die „Arche“, eine Einrichtung, die Ganztagsbetreuung für Kinder und Jugendliche aus sozial schwachen Familien anbietet. Sie können dort essen, spielen oder Hausaufgaben machen. Ich habe drei Monate vor Ort recherchiert und mit mehreren Kindern Interviews geführt. Ursprünglich hatten wir vor, ein Kind aus Hellersdorf und eines aus Nikolassee gegenüberzustellen. Dann haben wir festgestellt, dass Dominik allein schon so spannend war, dass es reicht, nur von ihm zu erzählen.

Bettina Blümner, da Sie in Berlin wohnen, war die Kontaktaufnahme bei Ihnen wahrscheinlich einfacher: Ihr Film „Prinzessinnenbad“ handelt von drei jungen Frauen aus Kreuzberg an der Schwelle zum Erwachsensein.

Blümner: Zu Beginn meines Films wusste ich, dass ich etwas über das Prinzenbad machen will. Den Ort kenne ich persönlich sehr gut. Dort habe mich auf die Suche nach möglichen Protagonisten gemacht. Als Erstes habe ich Klara kennengelernt, und sie hat mir dann ihre beiden Freundinnen vorgestellt.

Beide Filme zeichnen genaue und eindrückliche Porträts junger Menschen, die aufgrund ihrer Herkunft oder sozialen Stellung leicht Opfer von Vorurteilen werden. Vom Dokumentarfilmer erfordert das ein hohes Maß an Verantwortung denjenigen gegenüber, die die Wirkung ihres Kinobildes vielleicht nicht richtig einschätzen können. War es eine Gratwanderung?

Schult: Es ist einiges an Material rausgeflogen, das wir nicht zeigen wollten. Das war manchmal eine schwierige Entscheidung, weil das oft sehr spannende Szenen waren. Aber es gibt eben auch Momente, wo man seine Protagonisten schützen muss.

Blümner: Es gibt ja sehr viele Möglichkeiten, wie man eine Szene schneiden kann. Mit meiner Cutterin zusammen habe ich oft entschieden: „Das ist jetzt zu viel, so weit muss das nicht gehen.“ Ein Film sollte eine gewisse Poesie behalten. Man muss nicht alles auserzählen. Manchmal ist es besser, etwas nur anzudeuten.

Wie haben Sie sich und die Darsteller auf die jeweiligen Drehs vorbreitet? Wurden lange Vorgespräche geführt? Oder sind Sie mit der Kamera in eine Situation hineingegangen und haben beobachtet, was sich eben ergibt?

Schult: Gerade mit einem Kind muss man sich darauf einlassen, was an dem Tag jeweils passiert. Man kann versuchen, gewisse Absprachen zu treffen, aber vor Ort stellt es sich dann meist als ganz anders heraus. Man muss sich jederzeit von seinem Plan verabschieden können.

Blümner: Ja, man muss sehr flexibel und spontan sein. In den Terminen, in der Planung, in der Umsetzung, mit dem Team, in allem.

Wenn man in „Zirkus is nich“ sieht, wie Dominik mit seiner dreijährigen Schwester eine Straße überquert oder an der Haltestelle auf die Tram wartet, möchte man ständig rufen: „Vorsicht!“ Gerade bei dem kleinen Mädchen ist man ständig in Angst, dass es auf die Schienen laufen könnte. Wie war das während des Drehs?

Schult: Am Anfang haben wir auch oft eingegriffen, dann konnten wir das Material natürlich nicht mehr benutzen. Und irgendwann muss man als Filmemacher sagen: „Das wollen wir jetzt dokumentarisch festhalten, damit sich vielleicht auch das Bewusstsein des Umfeldes ein bisschen ändert.“ Einzugreifen oder nicht einzugreifen ist immer ein Problem, mit dem man sich als Filmemacher auseinanderzusetzen hat.

Geschichten aus der Wirklichkeit finden im Kino immer mehr Publikum. Woran könnte das liegen?

Schult: Die sozialen Sicherungssysteme fallen immer mehr weg, und die Leute sind übersättigt von der glamourösen Fernseh- oder Filmwelt Hollywoods. Die Zuschauer können sich mit den Realitäten im Dokumentarfilm mehr identifizieren, als mit Schauspielern, die ein komplett anderes Leben führen als sie selbst.

Blümner: Es ist eben so, dass die Realität eine ganz eigene Anziehungskraft hat.

Acht der zwölf Filme der diesjährigen „Perspektive“ der Berlinale sind von Frauen. Spiegelt das einen Trend?

Schult: Als ich an der Filmakademie angefangen habe, war ich die einzige Frau, die Kamera studierte. Insgesamt waren damals nur sehr wenige Frauen eingeschrieben. Inzwischen hat das zugenommen, es gibt auch immer mehr Kamerafrauen.

Blümner: Trotzdem erhalten Absolventinnen immer noch, prozentual gesehen, weniger Fördergelder als Männer. Aber was soll man dazu sagen? Es ist gut, wenn Frauen und Männer Filme machen.

„Prinzessinnenbad“. Regie: Bettina Blümner. D 2007, 92 Min.; 11. 2., 19 Uhr, Cinemaxx; 12. 2., 13 Uhr, Colosseum; 12. 2., 20.30 Uhr, Cinemaxx; „Zirkus is nich“. Regie: Astrid Schult. D 2006, 43 Min.; 14. 2., 19 Uhr, Cinemaxx; 15. 2., 13 Uhr, Colosseum; 15. 2., 20.30 Uhr, Cinemaxx

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen