: Die Muster der Verdrängung
In der gegenwärtigen RAF-Debatte herrscht unter Exlinken eine merkwürdige Amnesie: Keiner will damals Sympathisant gewesen sein. Aber das ist nur Geschichtsklitterung
Wer am 7. April des Jahres 1977 die „Karl-Marx-Buchhandlung“ an der Frankfurter Uni betrat, wurde von einem aufgeregten Verkäufer empfangen. „Buback ist erschossen worden! Findest du das gut oder blöd?“ Die Antwort wurde in eine Strichliste eingetragen; die meisten Striche standen unter „gut“. Die Frage, von wem der Generalbundesanwalt erschossen wurde, stellte sich ebenso wenig wie die Frage nach dem Warum. Der Buchhändler war Daniel Cohn-Bendit.
Am 4. Dezember 1974 hatte er Jean-Paul Sartre nach Stuttgart-Stammheim begleitet. Sartre, der französische Starintellektuelle, hatte Andreas Baader im Hochsicherheitsgefängnis besucht und sich danach kritisch zu dessen Haftbedingungen geäußert. Dass Sartre auch die RAF kritisierte und die Erschießung des Berliner Kammergerichtspräsidenten Drenkmann als „Verbrechen“ bezeichnete, ging in der deutschen Presse unter.
Die offizielle BRD reagierte empört auf seine Einmischung, der baden-württembergische Ministerpräsident Hans Filbinger sprach von einer „Instinktlosigkeit gegenüber den Opfern der RAF“. Vier Jahre später muss Filbinger zurücktreten, weil bekannt wird, dass er 1945 als Ankläger für die Hinrichtung des Matrosen Walter Gröger gesorgt hatte. Wegen Fahnenflucht, sieben Wochen vor Kriegsende.
Als Filbinger 1978 abtritt, ist Ulrike Meinhof schon zwei Jahre tot. Selbstmord, sagen die Behörden. Mord, sagen zehntausende von Demonstranten. In den Sechzigerjahren war die renommierte Journalistin Meinhof bei Werner Höfers „Internationalem Frühschoppen“ zu Gast, der damals bedeutendsten politischen Diskussionssendung im deutschen Fernsehen. Höfer, schon 1933 Mitglied in der NSDAP, muss 1987 den „Frühschoppen“ aufgeben, weil bekannt wird, dass er 1943 die Hinrichtung des Pianisten Karlrobert Kreiten als „Bestrafung eines ehrvergessenen Künstlers“ begrüßt hatte.
1973 wird Hanns-Martin Schleyer zum Präsidenten des Bundesverbands der Deutschen Arbeitgeberverbände gewählt, 1977 wird er Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie. Seine Karriere als Reichsstudentenführer und SS-Untersturmführer war Schleyer beim Aufstieg an die Spitze der deutschen Industrie nicht hinderlich. So weit, so bekannt. Die Täter sind unter uns.
Aber, auch umgekehrt gilt: Die Täter sind unter uns. Wie bei den willigen Vollstreckern des NS-Regimes, so gibt es auch unter den Wegbegleitern derer, die wir heute als RAF-Terroristen bezeichnen, eine bedenkliche und mit bloßer Altersschwäche nicht zu erklärende Vergesslichkeit. Vergessen wird, dass die RAF-Täter Teil „unserer“ Szene war. Mit uns auf der Straße, in der Kneipe, im Bett. So wenig, wie der Nationalsozialismus das Werk eines einhodigen gescheiterten Künstlers und seiner Jünger war, so wenig war der Terror der RAF das Werk eines vermutlich dreihodigen Alain-Delon-Darstellers und seiner Jüngerinnen.
Aber je mehr Zeit vergeht, desto erfolgreicher betreiben ehemalige Linke die nachträgliche Entmischung: dort die irren Terroristen, hier wir Pioniere der Zivilgesellschaft. Eine systematische Amnesie prägt die Debatten um die Freilassung von Brigitte Mohnhaupt und Christian Klar, ein geradezu Fest’sches „Ich nicht“. Ich hätte mich damals, klammheimlich oder nicht, über den italowesternartigen Buback-Showdown vom Motorrad gefreut? Ich hätte „Ulrike, das war Mord“ gebrüllt? Ich hätte Mollis geworfen am Frankfurter Goetheplatz, als ein Polizist schwer verletzt wurde? Niemals!
Wie die Kultur-BoBos ihre Schwäche für den Radical Chic der Baader-Meinhof-Gang, so verdrängen viele Exlinke ihre frühere Nähe zu den heute Geächteten. Das gilt auch für Leute wie Gerd Koenen und Wolfgang Kraushaar, die sich als Chronisten des „roten Jahrzehnts“ (Koenen) mit dicken Büchern in den Rang neutraler Sachverständiger schreiben. Der ermächtigt sie, in dünnen Zeitungen und noch dünneren Talkshows ihre Lightversion der Geschichte zu verbreiten. Dann schrumpft die RAF auf die „Lebenslüge“ (Kraushaar) einer Handvoll Psychopathen, die nicht von ihrer „Identitätskrücke“ lassen können.
Von gemeinsamen Anfängen in der antiautoritären Bewegung, vom Nichteinverstandensein mit den Verhältnissen, von einer gemeinsamen Staatsfeindschaft ist in dieser Abwicklungsrhetorik nicht mehr die Rede. Sicher, Klar und Mohnhaupt sollen freikommen. Aber mit meinem Leben haben die nichts zu tun – das ist der Tenor von Kraushaar und Koenen, gar nicht zu reden von Michael Rutschky und seinen „RAF = al-Qaida“-Gleichungen. Lebenslüge?
Gerd Koenen kämpft bis in die 80er im Kommunistischen Bund Westdeutschlands – bei dem, im Gegensatz zur RAF, Frauen übrigens keine Rolle spielten – für die Diktatur des Proletariats. Zum Glück ohne Erfolg, wer wollte sich schon vom deutschen „Schneid dir erst mal die Haare, Geh doch rüber“-Proletariat sein Leben diktieren lassen? Kraushaar ist 1974/75 Vorsitzender des Frankfurter Asta, damals das logistische Zentrum der Spontibewegung. Hier werden RAF-Hungerstreiks unterstützt und nach dem Hungertod von Holger Meins im November 1974 Demonstrationen organisiert.
Zur Beerdigung fahren Spontis wie KBWler nach Stuttgart und hören Rudi Dutschkes Abschiedsgruß am Grab: „Holger, der Kampf geht weiter!“
Wenn Kraushaar heute versucht, Dutschke zum geistigen Vater der RAF zu machen, verdrängt er, dass damals Tausende diesen Kampf – gegen Kapitalismus, Staat, Patriarchat, Berufsverbot, you name it – plausibel fanden, ohne gleich zur Waffe zu greifen. Man sollte mal die Gästeliste der Meins-Beerdigung checken. Wer von denen, die dabei waren, sitzt heute in schwarz-grünen Stadtparlamenten? Im Bundestag? Im Institut für Sozialforschung? Die Eskalation der Gewalt führt Mitte der 70er dazu, dass sich die legale Linke langsam von der RAF distanziert. Beim Pfingstkongress des „Sozialistischen Büros“ 1976 in Frankfurt mahnt der damals neben Cohn-Bendit führende Kopf des Revolutionären Kampfs (RK) die RAF zur Umkehr: „Gerade weil unsere Solidarität den Genossen im Untergrund gehört, weil wir uns so eng mit ihnen verbunden fühlen, fordern wir sie auf, Schluss zu machen, die Bomben wegzulegen und die Steine wieder aufzunehmen.“ Der RK-Genosse heißt Joschka Fischer.
Mit der Verbundenheit hat es bald ein Ende. Fischer & Co wissen genau, wie knapp sie selbst an der Illegalität vorbeigeschrammt sind; wie oft ein banaler Zufall über Knast oder Freiheit, RAF oder RK entschieden hat. Deshalb legen sie heute einen möglichst großen Abstand zwischen sich und die. So amnestieren sie sich selbst und delegitimieren die Revolte.
Exlinke, die die RAF verbal pathologisieren, betreiben Geschichtsklitterung. Und sie tun so, als hätte es keine Gründe gegeben, die Höfers, Filbingers und Schleyers zu bekämpfen. Allerdings nicht mit den Mitteln der RAF. Die hat dafür gesorgt, dass Schleyer als Opfer in die Geschichte eingeht. Und nicht als Täter, von dessen Opfern keiner mehr spricht. KLAUS WALTER
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen