: Kauf dich unglücklich!
Eine Studie belegt: Einkaufstörungen nehmen in Deutschland rapide zu
Holger H. ist völlig erschöpft: „Ich habe versucht einzukaufen, es war wieder einmal eine Katastrophe. Und am Ende stand ich da mit leeren Händen!“ Holger H. ist laut Dr. Vera Wurlitzer kein Einzelfall: „Die Kameras in den Supermärkten zeichnen zunehmend Kunden-Routen auf, die an den Schwänzeltanz der heimischen Biene erinnern“, sagt die Ökotrophologin. „Manche gehen zehnmal oder öfter zu einem bestimmten Produkt, kaufen am Ende aber doch nichts.“ Als Grund dafür nennt Dr. Wurlitzer ein steigendes Wissen um Herkunft und Wirkung der Lebensmittel. Ob Gammelfleischskandal oder Fairtradedebatte – der pflichtbewusste Bürger sei „völlig durch den Wind“.
Neueste Studien des von Frau Dr. Wurlitzer geleiteten Instituts für Wahrnehmungskonsum in Heidelberg zeigen Erschreckendes: „Beim Einkauf spaltet sich das Wesen des Konsumenten in Supermarkt-Es, Supermarkt-Ich und Supermarkt-Überich. Das Es will sich vollstopfen. Egal womit. Das Überich möchte der Pyramide gesünderer Ernährung folgen: 40 Prozent Getreide, Reis, Nudeln, 30 Prozent Obst und Gemüse und so weiter. Außerdem möchte das Überich nach hohen ethischen Standards leben. Das Ich wiederum möchte es wieder mal allen recht machen, auch dem Geldbeutel“, berichtet die Expertin vom ganz normalen Einkaufsalltag.
Dr. Wurlitzer weiß bereits von einigen psychosomatischen Krankheitsbildern: „Es gibt Menschen, die bekommen beim bloßen Ansehen von Aldi-Produkten Akne. Andere reagieren beim Anblick eines ‚LIDL ist billig‘-Schildes mit starkem Harndrang.“ Noch kann sich die Wissenschaftlerin das Phänomen nicht genau erklären, sie weiß nur eins ganz sicher: Die meisten Leiden gibt es im Zusammenhang mit dem Kauf von Fleisch- und Wurstwaren.
Melanie F. isst nichts, was ein Gesicht hat. Bärchenwurst kommt der sympathischen Lebensmittelkundin nicht auf den Teller. Davon abgesehen mag sie am liebsten Fleisch. Die Haltung und Tötung der Tiere findet sie aber „nicht so supi“. Als „uncool“ bezeichnet sie die Qualität einiger Fleisch-Abfall-Gemische wie zum Beispiel der „Original Berliner Currywurst“: „Am liebsten würde ich ja mit den Tieren sprechen, um zu wissen, ob sie ein gutes Leben hatten. An manchen Theken bin ich bereits als ‚Wurstflüsterin‘ verschrien.“
Biofleisch ist der fröhlichen Konsumentin aber nicht nur zu teuer, sie misstraut auch den Biosiegeln. „Mittlerweile ist ja alles bio. Die Nachfrage steigt, die Kriterien werden schwammiger. Außerdem sagt mein Freund immer: Das ist alles ein Riesenhoax. Und der muss es wissen. Der ist Unternehmensberater.“
Holger H. ringt derweil vor so manchem Regal mit sich: Fairtrade oder nicht, das ist seine Frage. Verbessert er die Lebensbedingungen wildfremder Menschen tatsächlich oder beruhigt er nur sein Erste-Welt-Gewissen, während er gleichzeitig dem liberalen Welthandel eine subtilere Form der Ausbeutung ermöglicht? Seine innere Zerrissenheit zeigt sich inzwischen dadurch, dass er mit dem Oberkörper nach links und rechts schwankend vor den Regalen verharrt, unschlüssig, welches Produkt er nehmen soll. Am Ende ist es wieder keins.
Laut Dr. Wurlitzer reagieren die Menschen auf ihre Einkauf-Überforderung ganz unterschiedlich: „Während manche Kompromisse suchen, leben andere fast nur noch von Wasser aus eigener Quelle und sogenannter ‚Lichtnahrung‘. Eine dritte Gruppe lässt alle Skrupel fahren.“ Wie Torsten „Nazgul“ W.: „Kauf gesund, kauf lecker, kauf fair, kauf stilvoll – drauf geschissen! Ich brauch’s hart, ich brauch’s dreckig. Ich ess fast nur noch Billigeintöpfe aus der untersten Regalreihe. Die Apokalypse in Dosen. Endgerichte. Die Abfälle der Chappi-Produktion, zusammengerührt in hausgroßen Zubern von schwitzenden Orks im Lande Mordor, wo die Schatten drohen. Leider kann ich nicht so viel kaufen, wie ich kotzen möchte.“
Welche der drei Gruppen am Ende stilprägend für das Konsumverhalten wird, bleibt für Dr. Wurlitzer abzuwarten. Sie sieht die Zukunft in Produkten wie „Vie“ von Knorr, dass Passanten zurzeit an jedem Bahnhof aufgeschwatzt wird. Dr. Wurlitzer dazu: „Ein Plastikfingerhut voll Saft, nicht teurer als ein Mensaessen, der 50 Prozent ihres Tagesbedarfs an Obst und Gemüse deckt. Das Produkt erfüllt die Bedürfnisse aller drei Gruppen: Gesund, billig und schmeckt zum Kotzen.“ ANSELM NEFT
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen