Der Glaube an die Volksoper

Der Komponist Winfried Radeke hat vor 30 Jahren die Neuköllner Oper gegründet. Heute wird sein neuestes Stück über das Erinnern uraufgeführt

290 Vorstellungen im Jahr, bis zu 10 Uraufführungen und eine Auslastung von 75 Prozent sprechen für sich. Die Neuköllner Oper, die seit 1988 ihre feste Spielstätte im ehemaligen Rixdorfer Ballhaus an der Karl-Marx-Straße gefunden hat, ist eine Institution dieser Stadt. Den Namen hat der 1940 geborene Kirchenmusiker und Komponist Winfried Radeke vor 30 Jahren ins Vereinsregister eintragen lassen. Wenn er davon erzählt, klingt es so beiläufig, als sei ihm der Erfolg ein wenig peinlich.

„Wahrscheinlich ist es die Mischung“, antwortet er auf die Frage nach dem Rezept. Die Neuköllner Oper spielt fast alles, Komödien, Operetten, aber auch ernste Stücke toter und lebender Komponisten. Wichtig ist ihrem Gründervater, dass sie Teil einer anderen, größeren Geschichte sind, über die er nun gar nicht mehr beiläufig redet. Er holt weit aus: „Opern müssen immer etwas erzählen“, sagt er. „Kunst um der Kunst willen ist nicht meine Sache.“ Es graust ihm dabei sichtbar bei der Vorstellung einer schwer verständlichen, abstrakten Melodie, die man gleich wieder vergisst.

Manchmal graust es ihn auch im eigenen Haus: „Wir müssen begründen, was wir spielen. Warum ‚Macbeth‘? Weil die sich abschlachten? Das tun sie alle, was hat uns das jetzt und hier zu sagen?“ Hier ist Neukölln, totes Bildungsgut zählt gar nichts. In diesem Fall gab es eine überzeugende Antwort. Radeke schrieb Verdis Opernpartitur für die bescheidenen Möglichkeiten der Neuköllner Oper um. Jetzt aber möchte ein jüngeres Mitglied der künstlerischen Leitung Gustav Mahler aufführen, im Keller ausgerechnet. Radeke versucht mit den Händen zu erläutern, was er von dieser Idee hält: „Den Raum erleben. Mit Mahler. Na, dann mach mal.“ Zur Avantgarde gehört er zweifellos nicht; und man ahnt, dass es nicht immer leicht ist mit diesem Mann und seinen Geschichten.

Das alles begann, als „dieses Westberlin eine kulturelle Wüste war“, noch vor 1977. Vor 30 Jahren gab es nur zum ersten Mal Geld von der Stadt für die kleine Gruppe von Musikern, die wild entschlossen war, ihr eigenes Musiktheater zu spielen. Man hatte Proben- und Aufführungsräume angemietet, und um an die noch sehr zaghaft verteilten Gelder des Berliner Senats heranzukommen, musste ein ordentlicher Verein gegründet werden. Radekes Tonfall ist ironisch, so furchtbar ernst soll man das nur deswegen fällige Jubiläum nicht nehmen. Ein Förderpreis der Akademie der Künste und die Unterstützung des Regisseurs Peter Stein waren außerdem nötig, um die Förderung über die ersten Aufführungen hinaus fortzusetzen: „Wir hatten ein paar Mal sehr viel Glück, sonst säßen wir jetzt nicht hier.“

Mehr als alle solchen Anekdoten zählt noch immer ein biografischer Bruch: „Ich hatte schon große Werke komponiert, aber nun saß ich da. Was sollte das? Ich musste hinaus, auf die Straße …“ 1968 war das gewesen, und ohne diese Irritation im Leben des jungen Kantors Radeke gäbe es keine Neuköllner Oper: „Wir wollten dem Volke dienen.“ Bei allem Ernst muss er dabei doch ein wenig lachen. Es ist lange her, dass man so reden konnte, lächerlich ist es trotzdem nicht. Der Verein verpflichtet sich in seiner Satzung noch heute, „Volksopern“ zu produzieren.

Das hat in seiner Musik eine sehr konkrete Bedeutung. Es ist keine politische Nostalgie damit gemeint, aber auch nicht die sozialarbeiterische Anstrengung multikultureller Integration, an die man in diesem Berliner Bezirk heute zuerst denken mag. Eine Volksoper ist einfach nur eine Oper, die man versteht, weil sie von Menschen handelt, die allgemeine menschliche Probleme haben – nicht nur die Probleme von Neukölln.

Heute hat sein jüngstes Werk Premiere: „Niemandsland“ handelt vordergründig von einem an Alzheimer erkrankten alten Mann. Radeke hat sich nicht nach der Komposition gedrängt. Aber man fand für das Textbuch des Hausautors Michael Frowin niemand anderen, der es in geeignete Musik übersetzen konnte. Unter Radekes Händen wurde die Fallstudie ein allgemein gültiges Drama über das Erinnern. „Ich musste zum ersten Mal in meinem Leben reine Gedanken auf die Bühne bringen.“ Die Lösung dieses Problems ist so klar und deutlich, wie es eben in einer Oper für alle sein muss: Wenn eine Person spricht, spricht sie, wenn sie nur denkt, singt sie. „Sehr einfach und leise“ – Radeke summt eine Kindermelodie – „nicht so wie in der modernen Oper“, deren Stil er gekonnt mit ein paar wilden Zwölftonsprüngen parodiert.

Ist er konservativ? „Nein!“ Entrüstung liegt in der Stimme. Er gehört zur Linken und hat natürlich den Aufruf der Berliner Theaterintendanten gegen den Irakkrieg unterzeichnet. Aber der Titel „Niemandsland“ trifft doch auch auf ihn selbst zu. Er steht mit seinen Geschichten fernab von allen Trends, Moden und Clubs. So schwierig es war, das Konzept des mal simultanen, mal abwechselnden Singens und Sprechens auf der Bühne umzusetzen, auf ein nur ästhetisch gewagtes Experiment kam es ihm auch in diesem Fall nicht an. „Ich mache ein Bilderbuchtheater, und wenn mir jemand vorwirft, dass ich Ohrwürmer schreibe, dann habe nicht nichts dagegen. Vielleicht wäre ich am liebsten ein Anarchist“.

NIKLAUS HABLÜTZEL

Uraufführung von „Niemandsland“ heute, Neuköllner Oper, 20 Uhr