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Die Vergeblichkeit macht starken Eindruck

Wo Wilhelm Genazino draufsteht, ist auch Wilhelm Genazino drin: Roman für Roman für Roman. Der Genazino dieser Saison heißt „Mittelmäßiges Heimweh“ – und ist gut wie immer

Wilhelm Genazino bedient seine Kundschaft so zuverlässig wie die Bäckersfrau an der Ecke. Das Angebot hat sich seit Jahren nicht wesentlich verändert. Hier hat noch nicht die Aufbäckerindustrie das Geschäft übernommen. Es wird mit Hand und Herz gebacken, weil verlässlich frische Brötchen am Morgen zum Grundbestand eines gelingenden Tages gehören. Ein paar belanglose Worte gibt es kostenlos dazu, und wer mag, nimmt sich gleich noch etwas Süßes für den Nachmittag mit.

„Mittelmäßiges Heimweh“ heißt der neue Roman von Wilhelm Genazino. So könnten eigentlich alle seine Romane heißen. Mittelmäßigkeit ist seit eh und je sein Thema: die mittlere Gefühlslage eines mittelmäßigen Mittelschichtlers in der mittleren Großstadt Frankfurt am Main. Diesmal handelt es sich um Dieter Rotmund, den zum Finanzdirektor aufsteigenden Controller einer Arzneimittelfabrik. Er lebt von seiner Frau getrennt, die ihm mit dem Satz „Ich mag deine Stimme nicht mehr hören“ den Abschied gibt. „Die Vergeblichkeit macht einen starken Eindruck auf mich“, sagt dieser Held; auch das könnten alle Genazino-Helden sagen.

Er tröstet sich mit der eher rachitisch wirkenden Vormieterin seiner Wohnung, die im Bett den Büstenhalter anbehält, weil sie eine Prothese trägt. Mittelmäßige bis mäßige, um nicht zu sagen: auf ziemlich trostlose Weise missratende sexuelle Bemühungen gehören auch in diesem Buch wieder zu den Merkmalen der Genazino-Prosa. Der obligate Bordellbesuch des Helden endet damit, dass unter dem Bett der Prostituierten ein weißes Hündchen zum Vorschein kommt. Tiere als Erinnerung an eine kreatürliche Daseinsform spielen eine große Rolle für den Erzähler. Mal vergleicht er seine Existenz mit der eines Stallhasen, mal bewundert er die Vögel, weil sie nicht darüber nachdenken, was sie den ganzen Tag machen sollen, mal beeindruckt ihn ein Hund, weil er so „empörungsfrei“ durch die Welt streift.

Dieter Rotmund verliert eines Tages ein Ohr. Es fällt schmerzlos von ihm ab wie ein welkes Blatt. Auf der symbolischen Ebene lässt sich dieser Einfall als Identitätsverlust oder auch nur als Hinweis darauf lesen, dass das Leben mit einem Ohr auch nicht seltsamer ist als das mit zweien. Genazino beweist, dass er auch surreale Elemente mühelos integrieren kann. Das ist neu im Angebot. Doch auf die Geschichte kommt es bei ihm auch dieses Mal nicht an.

Seine Prosa lebt nicht von der Ereignishaftigkeit, sondern von einzelnen prägnanten Beobachtungen in aphoristischer Verdichtung. Satz folgt auf Satz, und zwar so, dass jeder einzelne zur Not auch für sich bestehen könnte. Man kann sich diese sentenzartigen Aussagen zusammensuchen wie die Brötchen in der Bäckerei, bis man genug hat für einen Tag. Zum Beispiel: „Im Grunde erwarte ich immer noch, dass sich das Dasein innerhalb der Lebensspanne eines Menschen zu einem Sinn hin entwickelt.“ Oder – und auch daran hat man länger zu kauen: „Der stumme Auftrag, der uns allen erteilt ist, besteht darin, das Leben trotz seiner unendlichen Geschmacklosigkeiten freudig anzunehmen.“ Das schmeckt. Und es ist genug für alle da.

JÖRG MAGENAU

Wilhelm Genazino: „Mittelmäßiges Heimweh“. Hanser Verlag, 190 Seiten, 17,90 Euro

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