Weltrettung in Leipzig

Ortstermin: „Wechseln Sie! Sofort!“ Eine „Privatperson“ namens Ulla Gahn lädt die Leipziger ein zu einer Ökostrom-Wechsel-Party. Zu … was? Ökostrom-Party?

Je länger man sich das so anschaut, desto mehr könnte man staunen, was möglich wird, wenn nur eine Einzige aufsteht

AUS LEIPZIG PETER UNFRIED

Als Ulla Gahn ihren Freunden erzählte, dass sie zu Ökostrom gewechselt sei, sagten die, was Leute oft sagen: „Oh, Mann, toll, das wollte ich auch schon längst.“ Ob es teurer sei, ob der Strom weiter aus der Steckdose komme, ob sie nicht Unterlagen hätte. „Klar habe ich die“, sagte Gahn. Und da sie sich schon die Mühe gemacht hatte, gab sie die auch gern weiter. Aber als es dann immer mehr Auskunftsuchende wurden, sagte sie: So, jetzt mache ich es richtig.

Und so kam es bei Gahn, 33, zu Hause zur ersten privaten Stromwechsel-Party in Leipzig. Die Stadtzeitung Kreuzer brachte einen kleinen Hinweis. 40 Leute kamen, die Bude war voll, zehn Haushalte stiegen noch am selben Tag auf Ökostrom um. Und als nächstes kam die Frage: „Wann gibt’s das wieder?“

Gahn lagerte es aus an öffentliche Orte. Beim zweiten Mal kamen 35, fünf stiegen um. Heute ist die dritte Stromwechsel-Party im Haus des Bürgervereins Waldstraßenviertel, zwei Straßenbahnstationen vom Hauptbahnhof entfernt. Es gibt Kaffee und Kuchen, selbstgebacken, kohle- und atomstromfrei, versteht sich. Wieder ist der Raum voll, inklusive eines Überraschungsgastes von den Stadtwerken Leipzig. Das ist der örtliche Anbieter, der seine Kunden durch diese Partys verliert.

Ulla Gahn ist im Hauptberuf Fachfrau für Organisation in der Medienbranche, und das merkt man. Zum einen hat sie eine ganze Reihe von Experten zusammengebracht, etwa einen Professor von der Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur, einen Kommunalpolitiker, einen Windkraft-Stromerzeuger. „Die waren da wie a Brezn“, sagt Gahn. Einfach so und ohne Geld. „In München ginge das nicht“. So was ist ein Grund, warum sie Leipzig liebt und 2002 von München hierherzog.

Aus dem Raum kommt jetzt der Wunsch nach einem „Vortrag“. Sie hat keinen vorbereitet, sie „schießt ihn aus der Hüfte“, erklärt, wer sie ist („eine Privatperson“), was die vier Ökostrom-Anbieter Lichtblick, naturstrom, Greenpeace Energy und EWS voneinander unterscheidet – und was sie von den Angeboten der Energieriesen oder der örtlichen Stadtwerke unterscheidet. In Kurzform: Die vier erzeugen ihren Strom komplett aus Biomasse, Windkraft, Sonnenenergie und Wasserkraftanlagen oder in Kraft-Wärme-Kopplungs-Anlagen. Wer Ökostrom von diesen Anbietern bezieht, fördert gleichzeitig die weitere Erschließung alternativer Energiequellen und befördert eine Energiewende. Wer bei den großen vier Stromkonzernen kauft, zementiert im Prinzip den Status, das heißt Kohle- und Atomstrom.

Die Stadtwerke haben auch einen „Grünen Strom“ im Angebot. Ihr Strommix besteht nur zu 15 Prozent aus erneuerbaren Energien, dazu kommen 24 Prozent Atomstrom und 61 Prozent fossile und sonstige Energie. Gahn thematisiert auch, dass die Stadtwerke „Knebelverträge“ hätten und die Praxis, ihren „Best Price“-Tarif von Gas an den Bezug von Strom zu koppeln, um den Stromwechsel zu verhindern. Das Stadtmagazin Kreuzer hatte sich bereits zum Wechsel umgemeldet. Die Stadtwerke stellten sich quer. Nun wechselt man nach Ablauf des Zweijahresvertrags. „Das ist eine Haltungsfrage“, sagt Chefredakteur Björn Achenbach.

Ein Partygast erweckt Erstaunen, als er auf Nachfrage („Wenn das nicht zu intim ist, darf ich Sie nach Ihrem Stromverbrauch fragen?“) sichtlich erfreut mit der Zahl 650 Kilowattstunden herausplatzt. Beifälliges Nicken der Experten. Das ist Energie-Effizienz! Ein durchschnittlicher Einpersonenhaushalt verbraucht im Jahr derzeit noch 1.600 kWh.

Schnell ergibt sich eine raumweite Diskussion, die von Gahn gelenkt und stets dann geerdet wird, wenn die Experten ihre Zuhörer durch Detailkompetenz zu verwirren drohen. Gahn nennt das: „Susi fasst zusammen“.

Warum tut sie das eigentlich? Sie ist Freiberuflerin und hat sich vor einiger Zeit entschieden, ihre Zeit zu splitten in „ein Drittel für mich, ein Drittel für Geld, ein Drittel für die Welt“. Ihre Kenntnisse über Klimawandel und den Zusammenhang mit klimaschädlicher Energieerzeugung sind relativ neu. Offensichtlich ist sie eine, bei der der Weg zum Handeln extrem kurz ist. Das ist nicht die Regel.

In Leipzig gibt es inzwischen 4.800 Haushalte mit Lichtblick-Strom. Tendenz: steigend. Wie überall. Aber die Regel ist Zögern. Wer eine Woche nach der Party nicht gewechselt sei, der wechsle erst mal gar nicht mehr, sagt Lichtblick-Repräsentant Johannes Sibbor. Also, ruft Gahn: „Wechseln Sie! Sofort!“

Es geht um den bewussten Konsum, gerade in einem Bereich, in dem man bisher nicht bewusst konsumiert hat. „Es geht im Endeffekt darum“, sagt Gahn, „dass ich mit meinen Füßen und meinem Geldbeutel abstimme.“ Für oder gegen Kohlekraftwerke, für oder gegen erneuerbare Energie. In der Stadt hängen Tafeln, auf denen der Kohle- und Atomstromriese Eon mit einer neuen Tochterfirma damit wirbt, den örtlichen Anbieter um einen Cent zu unterbieten. Im Vergleich zu Eon ist das hier eine kleine Sache. Aber je länger man sich das so anschaut, desto mehr könnte man staunen, was schon dadurch möglich wird, wenn eine Einzige aufsteht.

Leipzig sei kein Einzelfall, sagt Gero Lücking, Unternehmenssprecher von Lichtblick. „Das ist eine neue Aktivität, die langsam Schule macht.“ Auch zugunsten der ökonomischen Interessen der Ökostromer, deren „kommerziellster“ Marktführer Lichtblick ist. Ja, sagt Lücking, es stimme schon: „Das zivilgesellschaftliche Engagement kommt uns zugute.“

Am Tag darauf und am Telefon erzählt Ulla Gahn von einem Bauunternehmer für Windkraftanlagenbetonfundamente, der ihr beim Rausgehen gesagt habe, wie toll er das fände. Es sei wie mit einem Staudamm, der gebrochen werden müsse: Wenn erst der Fluss käme, liefe alles wie von selbst, aber es gehe nicht ohne die ersten Tropfen, die den Weg bahnen. Ihre Zusammenfassung des Nachmittags lautet folgendermaßen: „Man ist nicht allein mit der Weltrettung, das ist ein gutes Gefühl.“

Erstaunlicherweise wirkt es weder pompös noch ironisch, wenn sie das Wort „Weltrettung“ ausspricht.