: Man gegen Mann
Die aktuelle Polizeistatistik weist wieder einmal junge Männer als problematischste Gruppe aus. Die hiesige Sozial- und Genderwissenschaft stellt dazu die falschen Fragen
Die in dieser Woche vom Innenminister präsentierte polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) ist in einem Punkt beunruhigend: Männliche Jugendliche und junge Männer begehen immer häufiger Gewalttaten. Täter aus dem Zuwanderungsmilieu der Städte treten außerordentlich häufig in Erscheinung.
Dieser Umstand wird häufig als Folge von Sozialisation, von Mustern „kulturbedingter Maskulinität“ oder Krankheitszuständen („Männlichkeitswahn“) beschrieben. Sie hat jedoch auch andere Ursachen als Erziehung und Umwelt. In allen bekannten Kulturen und in allen Phasen menschlicher Geschichte haben sich Männer, junge wie alte, zum Zweck der Gewaltausübung mit anderen Männern zusammengetan. Über alle Zeiten und Kulturen hinweg gibt es bei Männern einen stärker ausgeprägten Hang zum Stehlen, zum aggressiven Handeln und zur sexuell motivierten Gewalt. Offensichtlich hat dieses Verhalten mit Macht zu tun.
Ein Männlichkeitsforscher drückt es so aus: „Gewalt ist eine Tätigkeit, mit der soziale Ordnung hergestellt wird.“ Vielleicht haben wir und unsere Kinder die Chance, diese „ererbten“ Verhaltensmuster zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte anzugehen. Dazu müssen wir uns aber umfassend schlau machen, im näheren und weiteren Umfeld unseres Lebens aktiv werden und politisch handeln. Das scheinbare Einverständnis über die moralische Verwerflichkeit und Peinlichkeit des Machotums bewirken eher das Gegenteil, besonders bei den Migrantenkids.
Neuropsychologische und neurobiologische Studien zeigen Tatsachen auf, die in der bisherigen Gewaltdebatte wegen der vorherrschenden Ideologien von deutschsprachiger Sozial- und „Gender“-Wissenschaft nicht genug berücksichtigt oder verstanden worden sind. Danach sollte man einige Grundannahmen über den Menschen überdenken, zum Beispiel die Idee vom Kind als „unbeschriebenem Blatt“ (nach Steven Pinker). Weiterhin gilt dies für die Annahme über den „friedfertig-natürlichen“ Urzustand des Menschen. Dahinter verbirgt sich die Vorstellung von „ökologisch“ und „gender-politisch“ korrekten harmonischen Lebensformen in vormodernen ozeanischen Kulturen.
Man könnte heutzutage die Gewaltthematik gewissermaßen vom Kopf auf die Füße stellen. Nicht die Frage, weshalb Aggressionen auftreten, sondern Erkenntnisse, weshalb sie vermieden werden können, helfen uns weiter. Der erste notwendige Schritt, um Gewalt zu verstehen, liegt darin, ihre Verteufelung aufzugeben, um stattdessen eine Perspektive des Verstehens einzunehmen. „Rohes Selbstinteresse“, so die Neuropsychologie, ist ein Hauptgrund für Konflikte. Bildung in der weltoffenen, nicht nur in der Pisa-Version bewirkt das Gegenteil: Konflikte und Gewalt werden vermieden. Deshalb sind Bildungsferne und eine Antibildungshaltung bei zugewanderten Familien und bei der deutschen Randschicht zumindest indirekt Gewalt fördernde Faktoren.
Eine weitere Eskalationsbremse ist die Erfahrung des Reisens sowie Geschichtskenntnis und die Fertigkeit, sich an die Stelle von anderen Menschen zu versetzen, die zu anderen Zeiten als Todfeinde bekämpft worden wären. Islamisten und Antisemiten haben hier ähnlich gelagerte Probleme. Kriegs- und Konfliktvermeidung braucht die Fähigkeit, „den Platz des anderen einzunehmen“. Dafür werden wir Orte und Gelegenheiten schaffen müssen. Und manche von unseren jungen Gewalttätern wird man zu ihrem Glück zwingen müssen.
Joachim Kersten ist Professor in der Fachgruppe Psychologie/Soziologie und bildet KommissarInnen der baden-württembergischen Schutz- und Kriminalpolizei aus. Forschungsthemen sind Gewalt, Geschlecht und Kultur.
Diese Art von Bildung im weitesten Sinne macht die Entmenschlichung der verhassten „Anderen“ unmöglich, die Fremden- und Schwulenhass, Rassismus, Antisemitismus und „Ehrenmorde“ ermöglichen und Gewalthandeln als Frustrationsventil attraktiv, ja legitim machen. Die Anwendung von Gewalt soll häufig als Präventivmaßnahme zur Abschreckung oder Verhinderung von Gewaltmaßnahmen eines feindlichen Gegenübers funktionieren. Diese wichtige Legitimation für Gewalthandeln lässt sich in der Kriegsgeschichte ebenso nachweisen wie bei Gang- und Cliquenkonflikten. Man wird sie durch geeignete Maßnahmen entziehen müssen, so wie Zigarettenqualm, Alkohol- und Drogenmissbrauch.
„Männergewalt“ hat gemäß der Neuroforschung nicht nur, aber auch mit Ursachen zu tun, die von der Expertenschar, die Männlichkeit als bösartigen Dämon auffassen, weder verstanden noch berücksichtigt werden. Die psychologischen Unterschiede zwischen den Geschlechtern sehen so aus, wie die Evolutionsbiologie sie aufgrund der körperlichen Unterschiede vorhersagen würde. Das heißt nicht, dass sie unveränderbar sind.
Über die Menschheitsgeschichte hinweg betrachtet, machten die Unterschiede vormals „Sinn“ für die menschliche Fortexistenz. Für Frauen war Nachwuchs wertvoller, da „kostenintensiver“. Es gab größere Konkurrenz unter Männern, und die Durchschnittsgröße von Männern überragte die von Frauen. Das Verhalten von männlichen Geschlechtsangehörigen war und ist immer noch gewaltförmiger als das von weiblichen. In das Bild passen immer noch die spätere Pubertät von männlichen Geschlechtsangehörigen, ihr größeres Kraftvermögen während des Erwachsenenalters, ihre durchschnittlich kürzere Lebensspanne.
Eine nach Geschlecht verschiedene Hormonausschüttung erfolge schon vor der Geburt, ebenso wie die nachfolgende unterschiedliche Entwicklung des Gehirns und der Hirnfunktionen. Es gibt Unterschiede zwischen weiblichem und männlichem Gehirn. Dies betrifft insbesondere solche Teile des Hirns, die mit Sexualverhalten und Aggression im Zusammenhang stehen. Das bei männlichen Nachkommen höhere Testosteron-Aufkommen steht mit Libido, Selbstsicherheit und Dominanzstreben im Zusammenhang.
Die angeblich so unterschiedliche Erziehung von Jungen und Mädchen, die nach Ansicht der Pädagogik und von Teilen des Feminismus überhaupt erst den Gegensatz der Geschlechter erzeugen würde, könnte sich langfristig als Legende herausstellen. Eine Meta-Analyse von über 170 entsprechenden Studien weist nach, dass in wesentlichen Bereichen der elterlichen Zuwendung die Unterschiede bei weitem nicht so groß sind wie oft angenommen.
Menschen können ihr Verhalten ändern, auch wenn es über Jahrhunderte durch die Evolution als „sinnvoll“ eingeübt wurde, auch von unseren Körpern. Nur muss man es dazu studieren, beobachten und klug ändern. Das betrifft insbesondere Einstellungen, die mit den tatsächlichen oder scheinbaren sozialen „Verpflichtungen“ des männlichen und weiblichen Geschlechts zu tun haben. Durch reine Willensanstrengung (nennen wir sie Disziplin) oder moralgeschwängerte Ideologien der Menschheitsbekehrung, wie sie sich in der „bewegten“ und „erregten“ Populärwissenschaft finden lassen, wird nur Aufsehen erregt, aber es wird sich wenig bis gar nichts bewegen lassen.
JOACHIM KERSTEN
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