Merkel in Argumentationsnot: KOMMENTAR VON CHRISTIAN SEMLER
„Mit Sorge“ habe sie beobachtet, dass Kritiker des russischen Präsidenten gehindert würden, an einer Demonstration in Samara teilzunehmen, klagte Bundeskanzlerin Merkel gestern beim Russland-EU-Gipfel an den Wolga-Klippen. Dort kam es im Vorfeld zu willkürlichen Festnahmen und Einschränkungen der Bewegungsfreiheit – alles Verletzungen von Bürger- und Menschenrechten, die anzusprechen sich Angela Merkel vielfach verpflichtet hat. Mit ihrer offenen Kritik hat sie nun Schluss gemacht mit der Praxis ihres Vorgängers, Menschenrechtsverletzungen in Putins „souveräner Demokratie“ zu beschweigen. Entspricht sie damit nicht den Forderungen vieler Menschenrechtsorganisationen an unsere Regierung, öfter den Mund aufzumachen?
Was beim kommenden G-8-Gipfel in Heiligendamm richtig sei, müsse auch für die Sicherheit in Samara gelten, konterte Putin daraufhin in einer ebenso schlagfertigen wie zynischen Replik. In Wahrheit müsste dieser Satz genau umgedreht lauten: Verletzungen der Menschen- und Bürgerrechte müssen in Samara wie in Heiligendamm dem gleichen Maßstab unterliegen. So verhält es sich nun mal mit dem universellen Anspruch der Menschenrechte. Die Kanzlerin kritisierte die russischen Polizeimaßnahmen und sprach von Leuten, die „nichts gemacht haben und nur auf dem Weg zur Demonstration waren“. Wie aber verhält es sich mit den bereits erfolgten wie auch den geplanten Überwachungs- und Verbotsmaßnahmen rund um den G-8-Gipfel in Heiligendamm? Sind dort nur „Gewaltbereite“ versammelt, für deren auch vorbeugende Verfolgung die Kanzlerin gegenüber Putin „Verständnis“ zeigte? Es ist nicht die berechtigte Kritik an Putin, sondern ihr doppelter Maßstab, der Angela Merkels Auftritt in Samara ins Zwielicht rückt. Er diskreditiert ihren Einsatz für die Menschenrechte.
Daraus folgt aber nicht, dass es immer Demagogie sein muss, gegenüber Russland auf die Einhaltung der Menschenrechte zu pochen. Auch die entgegengesetzte Haltung – die „Andersartigkeit“ des Landes zu betonen und sich aus seiner innenpolitischen Entwicklung herauszuhalten – wäre fatal. Es würde eine Selbstisolation Russlands befördern, die für alle gefährlich ist.
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