: Machtkampf in der Ukraine eskaliert
Präsident Juschtschenko stellt die Truppen des Innenministeriums unter seinen persönlichen Befehl. Der Präsident und die Parlamentsmehrheit erkennen sich gegenseitig nicht mehr an – die politische Krise ist perfekt. Die Angst vor Gewalt wächst
AUS KIEW JURI DURKOT
In der Ukraine eskaliert der Machtkampf zwischen Präsident Wiktor Juschtschenko und Premier Wiktor Janukowitsch weiter, nachdem der ukrainische Präsident gestern die Truppen des Innenministeriums unter sein persönliches Kommando stellte. In einer auf der Website des Präsidialamts veröffentlichten Erklärung wurde die Maßnahme mit der Notwendigkeit begründet, einen Einsatz der Truppen des Innenministeriums„durch einige politische Kräfte“ zu verhindern, die die nationale Sicherheit der Ukraine bedrohten. Keinesfalls, so betont Juschtschenko ständig, dürften die Truppen zur Lösung von politischen Konflikten instrumentalisiert werden.
Am Donnerstag hatte Präsident Juschtschenko mit Generalstaatsanwalt Swjatoslaw Piskun einen seiner Widersacher entlassen und damit den Machtkampf verschärft. Piskun weigerte sich aber, seine Entlassung zu akzeptieren und blieb in seinem Büro. Innenminister Wasil Zuschko entsandte dutzende Polizisten, um Piskun zu schützen – es kam zu Handgreiflichkeiten zwischen den Sondertruppen des Innenministeriums und dem Staatsschutz vor dem Gebäude und im Hof der Generalstaatsanwaltschaft. Niemand wurde verletzt. Gestern hat prompt der neue Generalstaatsanwalt ein Strafverfahren gegen den Innenminister eingeleitet. Die Regierungskoalition warnt vor der möglichen Machtusurpation durch Präsident Juschtschenko und erkennt seine Erlässe nicht an. Der Präsident erkennt wiederum die Beschlüsse der Regierung und des aufgelösten Parlaments nicht an. Nach Meinung von vielen politischen Beobachtern sind mittlerweile beide Seiten so wenig zu einem Kompromiss bereit, dass weitere Konfrontation als unweigerlich erscheint. Sogar die Ausrufung des Notstands gilt nicht mehr als ausgeschlossen.
„Wenn diejenigen, die gegen das Gesetz verstoßen, nicht zurückweichen, verfügt der Präsident über alle Möglichkeiten und Befugnisse, diese Menschen, die einen gefährlichen Konflikt schüren, zu stoppen“, sagte Alexandr Turtschinow, einer der engsten Mitarbeiter von Julia Timoschenko, der kürzlich zum stellvertretenden Sekretär des Sicherheits- und Verteidigungsrats ernannt wurde. Viele Experten in der Ukraine interpretierten diese Äußerungen als indirekte Drohung.
Noch vor wenigen Wochen hatte sich ein Kompromiss zwischen den beiden politischen Lagern – den „weiß-blauen“ Anhängern Janukowitschs und den „Orangenen“ Vertretern der Opposition – abgezeichnet. Juschtschenko und Janukowitsch hatten sich Anfang Mai grundsätzlich auf vorgezogene Neuwahlen geeinigt und eine Arbeitsgruppe mit der Kompromisssuche beauftragt. Die einzige Streitfrage blieb der Wahltermin. Doch die Differenzen erwiesen sich als zu groß. Als die Verhandlungen scheiterten, eskalierte der Konflikt neu.
Noch gestern Abend wollten Präsident Juschtschenko und Premier Janukowitsch zu einem Krisengespräch zusammenkommen.
Eine Koalition, die was bewegt: taz.de und ihre Leser:innen
Unsere Community ermöglicht den freien Zugang für alle. Dies unterscheidet uns von anderen Nachrichtenseiten. Wir begreifen Journalismus nicht nur als Produkt, sondern auch als öffentliches Gut. Unsere Artikel sollen möglichst vielen Menschen zugutekommen. Mit unserer Berichterstattung versuchen wir das zu tun, was wir können: guten, engagierten Journalismus. Alle Schwerpunkte, Berichte und Hintergründe stellen wir dabei frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade jetzt müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Was uns noch unterscheidet: Unsere Leser:innen. Sie müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Es wäre ein schönes Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen