: Bullshit Berlin
Wenn Münchner in Berlin einen Auftrag erfüllen möchten, geht immer alles schief. Das liegt an der Hauptstadt – denn die will nicht wie München werden
VON SUSANNE LANG
„Komm, wir fahren nach Berlin, einfach so, jetzt!“
Gute acht Stunden später, als die Sonne kurz vor Berlin über der leeren Autobahn aufging und Schlaglöcher die jungen Münchner in ihrem Elternkleinwagen unsanft begrüßten, präsentierte sich dann dieses Berlin: mit einem von Christo verhüllten Reichstag, an dem die ersten Stoffbahnen bereits wieder abgenommen waren. Mit einer verwüsteten Rasenfläche vor dem Reichstag, auf der immer noch Menschen feierten.
Etwas später dann mit einem seltsamen Autokorso, auf den und aus dem Wasser-Pumpguns schossen, umhüllt von harten Geräuschen, die damals so aufregend Techno hießen – das Jugendgroßereignis Love Parade war gerade erst passiert. Einfach so, jetzt. Nicht schön, aber immerhin neu. Aufregend irgendwie.
Damals, Mitte der Neunziger, war Berlin eine Art Pflichtübung, nicht nur, aber besonders für Jungmünchener, die in ihrer überschaubaren Weltstadt mit Herz bereits alle Nischen besetzt hatten und ihre Nächte gerade in Altbauwohnungsclubs verbrachten. Damals galt dieses Berlin als Verheißung: Raum, unbesetzter und großer Raum für all die Identitätsbastler.
Der Fall der Mauer wurde nach und nach begreiflich, die Kollateralschäden, all die mehr oder weniger intellektuellen Stimmen des Ostens waren nach und nach abgedrängt – und Berlin im Zentrum dieses nun großen Landes ohne Identität präsentierte sich urplötzlich als die Bau- und Leerstelle, die alles war und noch nichts sein wollte. Für alle da, für niemanden bereit.
Ein paradiesischer Zustand in einem Land, das allen Wenden und Untergängen zum Trotz nach etablierten BRD-Regeln ticken wollte. Hier forderte ein Fleckchen unbeschriebene Gegenwart neue Bedeutung, neue Größe und neue Aufarbeitung! Und dies nicht erst, als die politische Elite 1999 dieses nackte Terrain zu ihrem Territorium erklärte, den Regierungssitz samt Parlament und Provinzwahlkreissiegern dorthin verlegte und so die Kaste der Hauptstadtpolitikmeinungsjournalisten ins Leben rief.
Weit davor hatte parallel zu den ersten kreativen Übernahmeversuchen der Jüngeren, gerne doch aus Süddeutschland, längst ein ganz anderer Kampf begonnen: der um die Deutungshoheit über und in dieser Stadt, die plötzlich all ihre Narben und Wunden so offen freigelegt hatte. Selbstverständlich liegt dieser Anspruch auf Interpretation immer in den Händen professioneller Diagnostiker, Journalisten aus den Kulturteilen der Zeitungen, die diese gern Feuilleton nennen.
Selbstverständlich war ihnen Berlin Verhandlungssache. Ehrensache. Nachdem Reporter wie Matthias Matussek (heute Kulturressortleiter des Spiegels) kurz nach der Wiedervereinigung noch ihrer Feuilletonwerdung harrten, sich also erst ein Bild machten von dieser Stadt und diesen ihren Menschen, um dann in Reportagen einen Versuch zu wagen, sie zu verstehen oder sie mit bestem Gewissen eben nicht zu verstehen, bezogen die Feuilletons der Zeitungen mit nationalem Geltungsanspruch ihre Stellung. Grantelnde, mit bayerischem Anstand zelebrierte Distanz (München, Süddeutsche Zeitung) gegen großbürgerlich getragene Weltbetrachtung (Frankfurter Allgemeine Zeitung) – die beide erst beinahe schicksalhaft in Berlin zu wahrer popkultureller Größe reifen durften.
Und kein Wunder: Es sind die Münchener, die bis heute schwer an diesem Projekt verzweifeln – perfider Weise in Frankfurter Medien. Allein das ein überzeugender Grund, dieses Berlin zu hassen.
Welch Missverständnis! Denn angetreten sind sie mit einem Herzensanliegen, das nun eigentlich ein sympathisches ist – in jedem Fall aus Münchner Sicht. Als geprüft und erwiesen alltagstaugliche „Weltstadt mit Herz“, wo im Gegensatz zu Frankfurt am Main nicht das Kapital residiert, sondern der bayerische Reflex darauf: Der gehätschelten Achternbusch’schen Anarchie wegen kann es nur München sein, das dieses leere Berlin zur Hauptstadt heranreifen lassen könnte.
Ihr Berliner Projekt nannten sie: Zivilisierung! Hat man ja zu Hause auch geschafft. Und zwar gegen die CSU.
Leider nur fehlt in Berlin nicht nur die Übersichtlichkeit einer sogenannten versnobten Bussigesellschaft – die da und wir dort, die draußen und wir drinnen. Neben allen Disktinktionsmöglichkeiten einer Schicht, die genau diese Bussi- und Adabeigesellschaft für ihr Ego so dringend braucht, mangelt es in diesem Berliner Hauptstadtzoo an der Bereitschaft, den Zivilisierungsmissionaren Folge zu leisten. Das Dumme nur: München gibt nie auf, schon gar nicht sich selbst.
Nicht zuletzt deshalb ist der alte Kampf um die Erklärung der Welt, diese ausgemachte deutsche Ideologenspezialität, mittlerweile in eine neue Evolutionsstufe eingetreten. Die Rituale des wechselseitigen Sichabsprechens von Zivilisiertheit und wechselseitiger Barbareibezichtigungen haben ihren ironic turn erreicht. Wie es sich für die Post-Alles-nur-Erdenklichen-Zeit geziemt, verlässt man angesichts der Barbarei diese Stadt nun gerade nicht.
Man ironisiert sein Anliegen und schreibt Bücher darüber, die in allen wichtigen Regalen in den Buchhandlungen der Stadt bitte schön ausliegen sollen, und gibt ihnen deutliche Titel: „Schaut auf diese Stadt. Geschichten aus dem barbarischen Berlin“ und Teil zwei, kürzlich erschienen, „Schaut auf diese Stadt. Neue Geschichten aus dem barbarischen Berlin“.
Eine Geburtshilfe der besonderen Art: „Die Autoren dieses Buchs wollen mitarbeiten an jenem Projekt, welches ohnehin die staatsbürgerliche Pflicht jedes Menschen ist, der in Berlin seinen Wohnsitz hat: Sie wollen ihren Teil dazu beitragen zur Weltstadtwerdung Berlins“, schreibt Claudius Seidl, Leiter des Feuilletons der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung und einst auch Mitglied der Redaktion der Süddeutschen Zeitung, in seinem Vorwort zu diesem, so gesehen, zweiten Manifest der Antibarbarei.
Im Buch nachzulesen sind im Folgenden all die guten Gründe für die immerwährende, doch immer scheiternde Zivilisierungsmaßnahme: Straßenmusiker, die in Berlin dilettieren. Wohnungen, die Schrott sind. Das angeblich „manisch-depressive“ Licht, die Baustellen, der Dreck, die schlechten Manieren der Menschen, der schlechte Geschmack der Menschen, die schlechten Manieren der geschmacklosen Menschen in Mitte, die Fahrradfahrer, die Autofahrer, die Auto fahrenden Fahrradfahrer in Mitte, die unmögliche Stammgastsituation, die Vernissagen, auf denen sogar linksradikale Kleidung zugelassen ist (sofern es die denn bitte auch geben möge) – eine Ode an den blinden Spiegel Berlin, der so gar nichts reflektieren will von dem Glanze, der München leuchten lässt.
Immer und über allem steht allerdings trotzdem die eine entscheidende und in Berlin doch so unmögliche Frage: „Wer bin ich?“ Denn „die ganze Sache wird nicht einfacher dadurch, dass man gar nicht anders kann, als jeden Morgen aufs Neue wieder eine pragmatische Antwort zu geben“. Versuche der Selbstfindung im blassblauen Sommeranzug, die artig ihrer Devise folgen: Wir sind gekommen, um zu leiden. Denn „in Berlin breitet sich nicht nur in aller Behäbigkeit all das aus, was zwischen einer bequemen Boheme und einer biederen Bürgerlichkeit so zu haben ist“. Oh nein. In Berlin „gab es womöglich gar keinen Code: Das war aber die Hölle.“
Wer dieses Dilemma nun nicht nachvollziehen kann, sollte versuchen oder besser nur Versuche beobachten, in München (wie in jeder anderen größeren deutschen Stadt) eine Flasche Bier in einem öffentlichen Nahverkehrsmittel zu trinken. Er oder sie weiß, warum Berlin die Hölle ist.
Bewaffnete (immer entsichert, schussbereit) Münchener Ordnungsautoritäten entsorgen nicht nur die Flasche, sondern den Fahrgast gleich mit ihr. In Berlin entsorgt der Fahrgast die leere Flasche in der Straßenbahn, steigt aus, ist weg. Verschluckt von der Stadt, die niemanden vermisst und alle zulässt. Tolerante Ignoranz. Für viele schwer auszuhalten.
Nach der Jahrtausendwende, dann, endlich, schrie eine Stimme namens „Angelika Express“ all jenen, die sich nach Berlin aufgemacht hatten, nur noch hämisch hinterher: „Geh doch nach berlin / wohin deine freunde ziehn / geh doch nach berlin / auf wiedersehn!“
Ein Versprechen, eines ganz anderer Art, denn eines haben die meisten der Hauptstadtmissionare möglicherweise nicht ernsthaft begriffen: Ankommen in diesem Provisorium Berlin mag Wille und Wunsch sein. Es bleibt aber immer ein Widerspruch in sich. „Berlin is in Germany“ – nichts, so oder so, ist wahrer als der Titel von Hannes Stöhrs Wendeschicksalsfilm.
SUSANNE LANG, 30, gebürtige Münchnerin, wuchs in Landshut (Bayern) auf, studierte in Münster (Westfalen), machte ihre Redakteursausbildung in München und lebt seit vier Jahren in Berlin, zunächst in einer Wohngemeinschaft im Szenebezirk Friedrichshain. In Bälde wird sie im unaufgeregteren, gleichwohl noch mittigen Stadtteil Alt-Treptow ihren Platz finden Georg Diez, Nils Minkmar, Peter Richter, Claudius Seidl, Anne Zielke: „Schaut auf diese Stadt. Neue Geschichten aus dem barbarischen Berlin“. Köln 2007, KiWi, 208 Seiten, 8,95 Euro