: Als die Mauer bis in den Himmel wuchs
KLASSENSTANDPUNKT Wie klein dieses Land DDR war! Erinnerungen an das Aufwachsen im Schatten des Schutzwalls
■ Barbara Bollwahn wurde 1964 in Borna, Sachsen geboren. Von 1991 bis 2007 arbeitete sie für die taz, zuletzt als Reporterin. Seitdem lebt sie als freie Schriftstellerin in Berlin.
■ Ihr Jugendbuch „Der Klassenfeind und ich“ kam 2007 heraus, verlebendigte, wie die SZ-Rezensentin meint, für Westjugendliche die DDR-Zeitgeschichte und setzte für Ostjugendliche der „grassierenden DDR-Nostalgie“ etwas entgegen. 2009 erschien „Glücksmuscheln“. Beide im Thienemann Verlag.
VON BARBARA BOLLWAHN
Als ich geboren wurde, stand die Mauer bereits 941 Tage. Seit meiner Geburt gehörte „die befestigte Staatsgrenze“ zu meinem Leben. Mittlerweile erscheint sie mir wie ein Geschwulst, dessen Beseitigung schon so lange zurück liegt, dass ich mich kaum noch an die Beschwerden erinnern kann. Weil ich nie ernsthaft Fluchtpläne hatte – zu groß war die Angst, erschossen zu werden oder im Gefängnis zu landen –, wandte ich all meine Kraft auf Fluchten aus dem sozialistischen Korsett, in das mich die Mauer zwängte. Interessant war in der Regel so ziemlich alles, was verboten war. Die DDR war mein persönlicher Abenteuerspielplatz – umgeben vom „antifaschistischen Schutzwall“.
Als Kind war die Welt für mich in Ordnung. Von dem Dorf zwischen Leipzig und damals Karl-Marx-Stadt, in dem ich aufwuchs, war die Mauer ziemlich weit weg. Groß war die Freude, wenn sie durchlässig wurde – für Pakete mit Jacobs Krönung, Feinstrumpfhosen, Kinderüberraschungseiern und Hubba-Bubba-Kaugummi, die eine Freundin meiner Oma schickte. Ab und an kamen auch Pakete von einer ehemaligen Schulfreundin meiner Mutter, die am Bodensee lebte. Akribisch notierte ich mit 12 Jahren in meinem Tagebuch, was die Schulfreundin meiner Mutter bei einem Besuch im Jahr 1976 mitgebracht hatte. „Eine aufgebrochene Kaugummipackung, für jeden einen bunten Sommerpulli und eine Tafel Schokolade. Für Mutti und Papi hatte sie zwei Flaschen Wein, eine Pralinenschachtel und das Buch ‚Alle Wunder dieser Welt‘ mit. (Das Buch für Papi und eine Schachtel Zahncreme.) Für Mutti Seife und Spray und Creme. Sonst einen Koffer voller Sachen (gebraucht) und Bananen (5–6).“
Bis ich etwa 14 Jahre alt war, funktionierte ich so, wie es von Kindern in der DDR erwartet wurde. Ich war Gruppenratsvorsitzende und FDJ-Sekretär. Das Gelöbnis zur Jugendweihe kam mir dann aber nicht mehr über die Lippen. Ich wollte nicht „für die große und edle Sache des Sozialismus kämpfen“, meinen „Weg zum persönlichen Glück mit dem Kampf für das Glück des Volkes vereinen“ oder „den Bruderbund mit den sozialistischen Ländern stärken“. Etwas wacklig stand ich auf den ersten Absatzschuhen meines Lebens und bewegte nur stumm die Lippen zum Gelöbnis. So wollte ich der „feierlichen Aufnahme in die große Gemeinschaft des werktätigen Volkes“ entkommen.
Nimm mich mit rüber!
Das Studium der spanischen und englischen Sprache an der Leipziger Universität, die damals den Namen Karl Marx trug, machte meine Hoffnung auf mehr Offenheit im Schatten der Mauer schlagartig zunichte. Der Unibetrieb war eine einzige Klippschule: Vorne stand der Dozent, und der hatte, wie die Partei, immer recht. Wichtiger als gute Sprachkenntnisse war ohnehin der richtige Klassenstandpunkt. Ich hatte gehofft, dass ich, wenn ich schon nicht reisen durfte, wenigstens mit Studenten aus Lateinamerika parlieren und meinen Horizont erweitern könnte. Doch auch diese Kontakte waren untersagt. Die ohnehin kleine DDR wurde immer kleiner.
Erzählten meine Eltern, die vor dem Mauerbau studiert hatten, von ihren Fahrten nach Westberlin, wo sie mit der größten Selbstverständlichkeit ins Kino gingen, den Kurfürstendamm entlangbummelten oder sich Schuhe kauften, wenn sie genug Geld hatten, konnte ich mir das so wenig vorstellen wie manch ein Jugendlicher sich heute das geteilte Deutschland vorstellen kann. Auch jede Familienfeier war geprägt von den Folgen des Eisernen Vorhangs. Es gab Verwandte mit und ohne Angehörige im Westen. Und es gab die Schwester meines Vaters, die mit einem Mann verheiratet war, der für die Staatssicherheit arbeitete. Alle wussten das, aber wirklich thematisiert wurde es nicht. Versucht wurde stattdessen ein Spagat, der bisweilen bizarre Formen annahm. Einerseits wollte man nichts mit dem Mann zu tun haben. Andererseits, wenn er begehrte Karten für das Gewandhausorchester besorgen konnte, wurden seine Kontakte schon mal in Anspruch genommen. Das habe ich nie verstanden.
Als eine Verwandte angeklagt und zu einer Gefängnisstrafe verurteilt worden war, weil sie von den Fluchtplänen von Kommilitonen gewusst und diese nicht verraten hatte, wuchs die Mauer geradezu in den Himmel.
Am Ende des Studiums sah ich keinen anderen Weg, als kriminell zu werden, um dem von oben vorgezeichneten Weg zu entkommen. Im vorletzten Studienjahr mussten wir einen Arbeitsvertrag unterschreiben. Es ging dabei nicht unbedingt um Stellen, die mit Sprachen zu tun hatten. Es ging darum, jedem Absolventen einen Arbeitsplatz zuzuteilen, den er im besten Fall bis zur Rente hatte. Ich legte meinem zukünftigen Arbeitgeber – dem Reisebüro in Ostberlin – einen gefälschten Schwangerschaftsschein vor und erfand eine Geschichte von einem Verlobten, der in Moskau studierte, und einer Neubauwohnung, die wir als sozialistische Familie beziehen würden. Die Klischees waren so platt, dass sie mir abgekauft wurden.
Als ich mich verstärkt mit dem Gedanken trug, einen Ausreiseantrag zu stellen, verliebte ich mich in einen Kolumbianer, der als junger Mann zum Studium in die DDR gekommen war. Besser gesagt: Ich verliebte mich in die Zutaten, die er hatte und ihn in meinen damaligen Augen interessant und aufregend machten. Der Kontakt mit ihm war verboten, er war ein Jahr älter als mein Vater, verheiratet, und er fuhr ein Auto mit einem roten Diplomatenkennzeichen, weil er für ein lateinamerikanisches Konsulat in Westberlin arbeitete.
Regelmäßig überquerte er die Sektorengrenze. Wie oft flehte ich ihn an, mich im Kofferraum mitzunehmen nach Westberlin. Hoch und heilig versprach ich, wieder zurückzukommen, damit er keinen Ärger bekam. Ich stellte mir vor, wie wir den Kurfürstendamm entlangspazieren würden, so wie meine Eltern vor dem Mauerbau. Doch der Kolumbianer gab mir zu verstehen, dass er nie etwas gegen das Land tun würde, das ihm sein Studium ermöglicht hatte. Ich glaubte ihm nicht, dass er der DDR, mit der ich mich so gar nicht identifizieren konnte, wirklich dankbar war, und warf ihm Verlogenheit vor, weil er den Osten jederzeit hinter sich lassen konnte.
Der Mauerfall beendete die Beziehung, die ohnehin eher ein Verhältnis war. Während ich sofort nach Westberlin ging, trauerte der Kolumbianer seinem Exotenstatus nach. Kurze Zeit später, als habe der Mauerfall mir die Augen geöffnet, überkam mich der Verdacht, er habe für die Staatssicherheit gearbeitet. Kaum konfrontierte ich ihn mit meiner Vermutung, geriet er außer sich und bestand auf einem Treffen. Dieses Treffen sagte er, wie auch andere, kurz vorher ab. Ich habe ihn nie wiedergesehen, und es gibt auch keine Dokumente, die Aufschluss geben könnten. Die Hauptabteilung Aufklärung der Staatssicherheit, die sich hauptsächlich mit Auslandsspionage beschäftigte, legte zwar einen „Sicherungsvorgang“ über mich an. Aber von der Stasi-Unterlagen-Behörde bekam ich nur die Kopie einer Karteikarte aus einer „Löschkartei“. Das war eine Sonderkartei des Ministeriums für Staatssicherheit, die Karteikarten enthielt, die zur Vernichtung bestimmt waren. Gewissheit werde ich wohl nie bekommen. An die Stelle der Mauer aus Beton und Stacheldraht war eine unsichtbare Mauer getreten.
Ich habe die Mauer gehasst, und doch hat sie mir Erlebnisse und Erfahrungen verschafft, die ich nicht missen möchte. Die Mauer hat mich zu dem gemacht, was ich bin. Noch sind es mehr Jahre, die ich in der DDR gelebt habe, als die im wiedervereinigten Deutschland. In wenigen Jahren wird das anders sein.