: Harnisch fliegt amerikanisch
Der vielseitige Henning Harnisch ist bei der morgen beginnenden Basketball-EM eine Schlüsselfigur im deutschen Team ■ Von Matthias Kittmann
Frankfurt (taz) – Marketingexperten wären schwer enttäuscht, beobachteten sie einmal jugendliche Basketballer in den deutschen Hochburgen dieses Sports. Dort dominieren nämlich nicht die Produkte ausgeklügelter Werbefeldzüge, wie etwa die Schuhe von „Air Jordan“, Blousons der „L.A. Lakers“ oder Kappen der „Boston Celtics“. Glücklich dagegen ist, wem die Haare in diesem Kurzhaar-Sport etwas länger über die Ohren gewachsen sind – derjenige kann sich mit einem „Henning- Harnisch-Stirnband“ schmücken. Das macht bei den Kids outfitmäßig echt was her.
Auch bei der am 22. Juni in Berlin und Karlsruhe beginnenden Basketball-Europameisterschaft, dem „spektakulärsten Basketball- Ereignis auf europäischem Boden nach dem Auftritt des amerikanischen Dream Team in Barcelona 1992“ (DBB-Präsident Manfred Ströher), wird der Leverkusener Spieler sein Markenzeichen wieder unter dem knapp schulterlangen Haarschopf tragen. Die europäische Staateninflation hat eine Vielzahl von Spitzenteams hervorgebracht und das Erreichen des „Minimalziels“ (Ströher), des fünften Platzes, der zur WM-Teilnahme berechtigt, wird nicht einfach sein. Nach der Absage des NBA-Stars Detlef Schrempf, mit dem der siebte Olympia-Platz geschafft wurde, lastet denn auch auf Henning Harnisch mehr Verantwortung.
Nun werden Sportler – Basketballer zumal – nicht deswegen zum Trendsetter, weil sie Teile ihrer Ausrüstung besonders verwegen zu kombinieren verstehen. Henning Harnisch ragt über die anderen deutschen Bundesligaspieler hinaus wegen seiner Art, „amerikanisch“ Basketball zu spielen. „Flying Henning“ nennen ihn seine Fans mit Bewunderung und seine Gegenspieler mit Respekt. Dank seiner gewaltigen Sprungkraft scheint er tatsächlich zu fliegen, bevor er den Ball in den Korb stopft. Das dunking ist eine Spezialität des 24jährigen, am liebsten als rückwärts eingesprungener slam- dunk – also mit einer 180-Grad- Drehung in der Luft und ohne Blickkontakt zum Ziel.
Trotzdem eilt Henning Harnisch nicht der Ruf eines Galeriespielers voraus. Seinen Wert hat er für Meister Leverkusen und die Nationalmannschaft als Alleskönner. Distanzwürfe sind für ihn genausowenig ein Problem wie seine Bewegungen zum Korb unwiderstehlich sind. Die letzten 30 Sekunden im Vorbereitungsspiel gegen die USA am 12. Juni in Frankfurt hatten daher symbolische Bedeutung: Einen von der Korbkante springenden Ball tippte Flying Henning zum 86:85 rein, im Gegenzug sicherte er Sekunden vor Schluß den Rebound des letzten amerikanischen Wurfversuchs.
Als der gebürtige Marburger 1989 zu Bayer Leverkusen wechselte, gab es zunächst ein Problem: Henning Harnisch war gerade als Kriegsdienstverweigerer anerkannt worden. Nun genießen Spitzensportler, die keine Waffe tragen wollen, bei weitem nicht die Vergünstigungen wie die Staatsamateure bei der Bundeswehr. Doch der Leverkusener Manager Otto Reintjes hatte als ehemaliger „Zivi“ nicht nur Verständnis, er wußte auch Rat. Ihm war bekannt, daß es seit 1987 einige wenige Zivildienstplätze für Spitzensportler gibt. Zusammen mit Teamkollege Moritz Kleine-Brockhoff arbeitete Harnisch in einer Einrichtung für behinderte Kinder. „Aus Schule und Sport kannte ich nur den reinen Leistungsgedanken. Dort habe ich gelernt, daß es auch andere Dinge gibt, die im Leben zählen.“
Abseits des Spielfeldes ist Henning Harnisch alles andere als „amerikanisch“. Kein Gedanke an Allüren. Wenn man ihm im Gespräch gegenübersitzt – und der 2,02 Meter-Riese ist Gentleman genug, einen nicht allzulange mit verrenktem Hals stehen zu lassen – macht er einen sensiblen, fast zurückhaltenden Eindruck. Sehr selbstkritisch kommentiert er z. B. das Angebot der „Golden State Warriors“ aus der NBA, das diese ihm nach den Olympischen Spielen in Barcelona gemacht haben. „Natürlich war das ein Riesenkompliment für mich. Aber ich bin wahrscheinlich nicht stark genug für die US-Profiliga. Selbst Detlef Schrempf hat lange gebraucht, um sich dort zu etablieren.“ Und zum Bankdrücken hat er keine Lust. Außerdem mißfällt ihm das brutale Profisystem in den Staaten, wo die Spieler wie Ware hin und her geschoben werden.
In die USA fährt er trotzdem gerne – in Urlaub. Wenn er da an einem Basketballkorb vorbeikommt, machen die Streetballkids jedesmal eine interessante Erfahrung: „White boys can jump!“ Professionell Basketball wird Harnisch also weiterhin in Europa spielen, aber nicht unbedingt in Deutschland. „Italien reizt mich“, bekennt der ehemalige Philosophiestudent. Dort wird der beste Basketball in Europa gespielt und „die italienische Mentalität liegt mir auch eher“. Die italienischen Reporterkollegen würden am neuen tedesco ihre helle Freude haben. Auf ihr „scusi, Henning, prego“ könnte er problemlos in der Landessprache antworten.
Doch zunächst hat die Europameisterschaft Priorität. Mit 24 Jahren muß er noch keine exakten Pläne für die Zeit „danach“ machen. Doch wenn Henning Harnisch seine Gedanken in die Zukunft schweifen läßt, dann hebt er sich auch dabei von vielen Spitzensportlern ab: „Mein Traum wäre es, ein Literaturcafé zu eröffnen.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen